Zeichnung von Arthur Sullivan mit original Unterschrift

Arthur Sullivan

 

Sein Leben, seine Zeit

 

(überarbeitete Fassung aus: Saremba, M.: Elgar, Britten & Co. Eine Geschichte der britischen Musik in zwölf Portraits , Zürich/St. Gallen 1994)

 

 

Eine kulturelle Explosion

Die technische Entwicklung, die das Vorwärtskommen auf größeren Entfernungen im 19. Jahrhundert wesentlich erleichterte, war die Eisenbahn. Dieser Aufschwung im Verkehrswesen brachte jedoch nicht nur die Wirtschaft voran, sondern zugleich einen nicht zu unterschätzenden Stimulus für das Musikleben des Landes mit sich. Durch die immer besser werdende Infrastruktur Großbritanniens wurde es möglich, lange Distanzen rasch zu überwinden, was den ausübenden Musikern, ja ganzen Orchestern und Theaterensembles neue Auftrittsmöglichkeiten erschloss und den Einzugsbereich von Theatern und Konzerthäusern erweiterte.
Die Musikfestivals in den großen Städten erlebten einen Aufschwung, neue Konzertsäle wurden gebaut und auch neue Orchestervereinigungen gegründet. Das 19. Jahrhundert verschaffte auch der Statistik ihre Existenzberechtigung, denn endlich konnte man mit Daten aufwarten, die imposant genug waren, um für die Nachwelt festgehalten zu werden. Mit Genugtuung konnten die Bürger verfolgen, wie sich das Netz der Eisenbahn wie das einer Spinne ausbreitete und das Land mit tausenden von Schienenmeilen überzog. Potentielle Fahrgäste gab es genug, die in der neuen Epoche der Großstädte auf gute Verbindungen angewiesen waren. Allein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerungszahl Europas, dank der stetigen Verbesserungen der hygienischen Verhältnisse und der Fortschritte im medizinischen Bereich, um 42 Prozent von 187 auf 256 Millionen.

 

Mochte Paris die kulturelle „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ 1 sein, so war London sein wirtschaftlicher und politischer Mittelpunkt. „London ist wie eine Zeitung“, notierte der Journalist Walter Bagehot über die Bedeutung der englischen Metropole für das Werk des Schriftstellers Charles Dickens, einem langjährigen Freund Sullivans. „Hier gibt es alles, aber alles erscheint ohne Zusammenhang.“2 In der Tat stellte London nicht nur einen Schmelztiegel des weltoffenen, industrialisierten viktorianischen Englands dar; hier fand man auch die Schattenseiten der von Klassenschranken, Machtpolitik und wirtschaftlichen Expansionsstreben geprägten Nation, denn die Verelendung im Zentrum des britischen Imperiums war groß, da an dem wachsenden Lebensstandard und dem steigenden Nationaleinkommen, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vervierfachte, zumeist nur die Wohlhabenden teilhatten.


Arthur Sullivan war Londoner und er war Musiker – eine Persönlichkeit, die durch seine Heimatstadt nicht minder geprägt wurde als durch das Elternhaus, und ein Künstler, der sich der Verflechtung von Musik, Handel, Politik und Technik sehr wohl bewusst war. Selbstsicher machte er geltend, daß die Musik in ihrer Bedeutung „auf einer Stufe mit so wesentlichen Arbeiten wie Landwirtschaft und Warenproduktion“ stehe, eine Folgerung, die er sogar aus der Einteilung der menschlichen Gesellschaft im alttestamentarischen Buch Genesis herleitete.3


Durch die enormen Fortschritte auf den Gebieten der Technik, der Naturwissenschaften und der Medizin vollzog sich im 19. Jahrhundert einer der gewaltigsten Zivilisationsschübe in der Geschichte der Menschheit, der durchaus den gewaltigen Umwälzungen durch die heutige Computertechnologie vergleichbar ist. Auch das kommerzielle Konzertleben erhielt dadurch einen Aufschwung, der nach manchen Einschätzungen einer „kulturellen Explosion“ gleichkam. 4

 

Was indes nicht im gleichen Maße Schritt halten konnte, war die Anerkennung, die man zu dieser Zeit der Musik in Großbritannien entgegenbrachte, und erst recht nicht, wenn sie von einheimischen Künstlern produziert wurde. Die glorreichen Tage, als die „contenance anglaise“, das englische Antlitz der Musik des 12. Jahrhunderts, in Europa gerühmt wurde, und die neue Phase der kulturellen Blüte unter Elizabeth I., als Namen wie Purcell, Gibbons, Dowland oder Byrd ein Begriff waren, gehörten schon längst der Vergangenheit an. Die Geschichte des Landes bewies, daß vor der Moral erst das Fressen kommt und ganz zuletzt die Kultur: Bürgerkriege, Machtkämpfe, der Einfluß der Puritaner und handfeste wirtschaftliche Interessen beanspruchten für eine lange, eine zu lange Zeit die Aufmerksamkeit der Nation. Die britischen Inseln sind zu klein, als daß beispielsweise wie auf dem weitläufigen europäischen Festland ein Künstler wie Schütz relativ unbehelligt von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges noch genügend Muße für große Kunstwerke erübrigen konnte. Die Literatur genoß zwar stets ein hohes Ansehen in Großbritannien, aber eine Schriftkultur ist nun einmal auf Werke in der Muttersprache angewiesen. Musik hingegen war einfacher zu haben, indem man sich einfach das nahm, was andere Länder zu bieten hatten. Das nötige Geld dazu war vorhanden oder würde schon irgendwie durch die Kolonien in Übersee erwirtschaftet werden, dachte man sich.


Als Arthur Sullivan die kulturelle Bühne seiner Heimat betrat, hatten die Briten seit fast 200 Jahren die einst hohe Stellung in der Musikwelt verloren und sich seitdem, wie Sullivan feststellte, „so berühmten Ausländern anvertraut [...] wie Händel, Haydn, Spohr, Mendelssohn (bis jetzt der Lieblingskomponist der Engländer) und der italienischen Oper, die ausschließlich die Aufmerksamkeit der vornehmen Klassen auf sich gezogen hat und sich wie ein großer Moloch über alle Bemühungen um eine eigene Musik rücksichtslos hinwegsetzte und sie beiseite drückte“.5 Im Bereich der Musik war ein kulturelles Vakuum entstanden, das Sullivan nicht nur genau erkannte, sondern auch auszufüllen verstand. Nach den Kriegen mit Napoléon hatte sich die englische Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soweit stabilisiert, daß sie ihre nationale Identität nun auch auf kulturellem Gebiet neu zu definieren suchte.

 

So erwachte im Zuge der Bestrebungen um ein nationales Theater6 nach und nach das Interesse an originalen Werken eigener Komponisten. Doch aus welchem Bronnen konnte Sullivan schöpfen? Purcell war schon seit langem in Vergessenheit geraten, und man hatte erst 1876 mit der Gründung der Purcell-Gesellschaft wieder begonnen, seine Werke neu zu entdecken. Sullivans musikalische Wurzeln lagen in der von der Chapel Royal gepflegten Sakralmusik und im Kulturerbe Deutschlands, einem Land, dem England durch verwandschaftliche Verflechtungen auf höchster politischer Ebene seit geraumer Zeit verbunden war. Seine Laufbahn knüpfte an diese Tradition an, die er jedoch nicht konservieren, sondern zum Ausgangspunkt für neue Entwicklungen nehmen wollte.

 

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Das deutsche Erbe

Am 13. Mai 1842 war Arthur Sullivan als zweiter Sohn eines irischen Musikers und seiner italienischstämmigen Frau in London zur Welt gekommen. Durch den Vater wurde Arthur eine ungewöhnlich gründliche musische Ausbildung zuteil, wobei Thomas Sullivan jedoch keine Anstalten zeigte, aus seinem Sohn ein Wunderkind zu machen, wie es einst Leopold Mozart praktiziert hatte. Einen Zwang gab es nicht, er wäre bei dem musikbegeisterten Kind auch gar nicht nötig gewesen. Auf Drängen des Sohnes stellte Vater Sullivan den Knaben bei den Verantwortlichen der Chapel Royal vor, jener berühmten Königlichen Kapelle, die bereits im 12. Jahrhundert als Vereinigung der am Hof versammelten Musiker gegründet worden war und zur Ausgestaltung kirchlicher und höfischer Anlässe beitrug. Zwar stand unterdessen die Qualität dieses Ensembles kaum noch in Einklang mit der ruhmreichen Vergangenheit des Instituts, doch waren die prägenden Einflüsse, die Arthur Sullivan hier von 1854 bis 1856 erhielt, mannigfaltig.

 

Durch seine gute Stimme avancierte der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Musikersohn zum „first boy“ des Chores und kam durch viele Auftritte erstmals mit dem Gesellschaftsleben der High Society und des Königshauses in Kontakt.
Einen tiefen Eindruck hinterließen Begegnungen mit Künstlern vom Rang einer Jenny Lind; musikalisch wurde ihm das Idiom Händels, Mozarts und Mendelssohns eingeimpft. Auch zu ersten Kompositionsversuchen ermutigten ihn seine Lehrer, und einige Chorstücke wurden sogar aufgeführt. Man ahnte bereits, daß es hier ein großes Talent zu fördern galt, und als Arthur Sullivan 1856 als jüngster Teilnehmer den erstmals ausgeschriebenen Mendelssohn-Wettbewerb gewann, schien seine weitere Laufbahn vorprogrammiert. Und für viele Jahre sollte sich Sullivan tatsächlich auf den für ihn ausgelegten Gleisen bewegen. Jedoch deutete sich schon bald an, daß er das kulturelle Vermächtnis, das ihm anvertraut wurde, nicht bloß weiterverwaltete, sondern mit seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen verband.


Nach zwei weiteren Ausbildungsjahren an der Royal Academy of Music wurde Sullivan 1858 das mit dem Wettbewerbsgewinn verbundene Studium am Konservatorium in Leipzig ermöglicht. In England hatte man gerade erst damit begonnen, für die Unterweisung des Nachwuchses große Musikinstitute einzurichten. Dazu gehörten unter anderem die Royal Military School im Schloß Kneller Hall (1856), an der dann auch Sullivans Vater lehrte, die London Academy of Music (1861), das Royal College of Organists (1864), die London Organ School (1865) und das College of Church Music (1872), das später zum Trinity College of Music umbenannt wurde, sowie die National Training School for Music, der Sullivan von 1876 bis 1881 vorstand, bis sie dann 1882 in das Royal College of Music integriert wurde. Für Sullivan, und noch für Künstler nachfolgender Generationen wie etwa Frederick Delius oder Ethel Smyth, war eine gehaltvolle musikalische Weiterbildung nur außerhalb Englands, vor allem in Deutschland, zu bekommen.


Obwohl er ein ausgezeichneter Pianist und Dirigent war, fiel in Leipzig für Sullivan nicht nur die Entscheidung, daß er sich doch wohl in erster Linie als Komponist verstand. In der sächsischen Musikmetropole erhielt er auch wesentliche neue Anregungen. Neben die Idole von einst traten neue: Schumann und Schubert, während Wagner und seine Anhänger kaum Einfluß auf den jungen Mann aus England gewannen. Arthur Sullivan konnte nicht begreifen, daß London der neuen Musik weitgehend desinteressiert gegenüberstand, ja sie eigentlich gar nicht kannte.

 

Im Musikleben der englischen Metropole dominierten Händelsche Chorsätze, Mendelssohns Melodienreichtum und Chopins Zauber. Sullivan erkannte rasch die Bedeutung, die das Leipziger Kulturleben für ihn hatte. Er begegnete auf musikalischen Matineen dem Geiger Joseph Joachim und der Pianistin Clara Schumann, und er lernte auch bei einem Treffen der Tonkünstler-Versammlung Franz Liszt kennen, der ihm trotz mancher Exzentrik sympathisch war und den er als Orchesterleiter bewunderte. Das kleine Hoftheater in Weimar hatte Liszt durch etwa zwanzig bemerkenswerte Premieren vor allem zeitgenössischer Werke, darunter 1850 Wagners Lohengrin, zu einer der innovativsten und interessantesten Bühnen in ganz Europa gemacht.

 

Liszt war es wahrscheinlich auch, der Sullivan zu Peter Cornelius' komischer Oper Der Barbier von Bagdad nach Weimar einlud, deren Uraufführung im Dezember 1858 Liszt selbst dort geleitet hatte. Diese Oper stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Lortzings Werken und Wagners Meistersingern von Nürnberg dar, die allesamt nicht nur musikalisch anregend für die spätere englische komische Oper waren, sondern auch voll sprachlichen Humors im Geiste von Sullivans späteren Partner Gilbert. Die Oper von Cornelius dürfte auf Sullivan durchaus Eindruck gemacht haben, denn 1891 sollte auf seine Anregung hin die englische Erstaufführung im Savoy Theatre stattfinden, gegeben von Studenten des Royal College of Music.


„Ich versuche mir oft vorzustellen, was aus mir geworden wäre, wenn ich nie nach Deutschland gekommen wäre“, schrieb Arthur Sullivan 1860 an seine Mutter und fuhr fort: „In England gab es nur noch wenig für mich zu lernen. Ich hatte fast das gesamte jemals in London aufgeführte kleine Musikrepertoire gehört und kannte es gut (und es ist wirklich äußerst klein verglichen mit dem, was man hier hört). [...] Nicht nur ist mein musikalisches Urteilsvermögen größer und reifer geworden, sondern ich habe auch gelernt, wie gute Arbeit gemacht sein sollte. In England haben sie keine Vorstellung davon, die Orchester mit dem Maß an Feuer und farblichen Abstufungen spielen zu lassen, wie sie es hier vermögen, und genau das möchte ich erreichen: die englischen Orchester genauso perfekt zu machen wie die auf dem Kontinent, und sogar noch mehr, denn die Kraft und der Ton der unsrigen ist stärker als bei den ausländischen.“
Doch Sullivan bekam durch seinen Deutschlandaufenthalt noch andere Bedenken gegen die Einstellungen einheimischer Musiker und Musikliebhaber sowie das Kulturleben seines Heimatlandes allgemein: „Wenn ihnen irgendetwas nicht beim ersten Mal gefällt (und ihren Ohren schmeichelt), wenn sie es hören, dann verwerfen sie es und wollen nichts mehr damit zu tun haben, wobei sie vergessen, daß ein Einzelner wirklich gute Musik selten beim ersten Hören würdigen kann, sondern daß nach und nach jeder für sich ihre Schönheiten erkennt. Man denke beispielsweise an Beethoven. Seine 5. Sinfonie wurde ausgebuht und verlacht, als man erstmals in der Philharmonie eine Aufführung versuchte; Carl M. von Weber sagte von der 8. (oder 7.), daß der Komponist reif fürs Irrenhaus sei. Gerade erst jetzt beginnt man in England die Chorsinfonie zu verstehen. Und wie denken wir jetzt über Beethoven? Man stelle sich vor, er wäre einfach verworfen worden wie heute Schumann (der populärste deutsche Komponist), Schubert, Gade und andere weniger renommierte Komponisten. Wirf einen Blick in das Konzertprogramm von morgen Abend. [...] Stelle Dir vor, man sieht in England Schumann und Wagner in dem gleichen Programm. Ich hoffe, daß diese Zeit noch kommen wird. [...] Ich bin der Meinung, daß die Musik als Kunstgattung in England sehr bald zum Teufel gehen wird, wenn nicht ein paar begeisterte, geschickte, fähige und junge ausgebildete Musiker die Sache in die Hand nehmen.“7

 

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Ein zorniger junger Mann

Begeisterungsfähig war Sullivan, und er verstand es auch, seinen Enthusiasmus anderen zu vermitteln. Mit großen Plänen kam er 1861 nach London zurück. Hier galt es, neue Wege in einer noch unterentwickelten kulturellen Infrastruktur zu erschließen. Der eifrige junge Mann stieß allerdings mit seinen Vorstellungen auf manches Unverständnis. Sullivan sei in Deutschland ruiniert worden, klagte der alte Cipriani Potter, der Leiter der Royal Academy of Music, und mit dieser Einstellung stand er gewiß nicht allein. Um das englische Musikleben aus seiner Lethargie zu lösen, war Überzeugungsarbeit zu leisten. Einen Geistesverwandten fand Sullivan in George Grove (1820-1900), einem engagierten Polymathen, der nicht nur die Wertschätzung für Schumann und Schubert teilte, sondern auch die Situation ähnlich beurteilte. Grove hatte seinen Zugang zur Musik nicht als ein von Jugend an die Zunftregeln studierender Musikmeister gewonnen, sondern als Liebhaber, ja er war eigentlich ein Amateur auf diesem Sektor.

 

Zumindest in ihren Anfängen war die Musikwissenschaft in England eine Sache von Laien – oder „Dilettanten“ in der alten Bedeutung dieses Wortes – , und so braucht es nicht zu verwundern, daß Grove, der von seiner Ausbildung her eigentlich Ingenieur war, sich autodidaktisch umfassende musikalische Kenntnisse angeeignet hatte und unter anderem einführende Texte zu den Konzerten im Kristallpalast („Crystal Palace“) sowie ein Buch über Beethovens Sinfonien verfaßte. Ein so kritischer Geist wie George Bernard Shaw schrieb über Grove, sein Lebenswerk sei „wertvoller als das aller Premierminister des ganzen Jahrhunderts.“8 Und die Krönung dieses Werkes war gewiß das Dictionary of Music and Musicians, das zwischen 1879 und 1889 erstmals in vier Bänden herauskam.


Als Sullivan die Bekanntschaft von Grove machte, war dieser Geschäftsführer des Kristallpalastes in London. Dieses riesige Konzert- und Ausstellungsgebäude war 1851 zur ersten Weltausstellung im Hyde Park errichtet worden, anschließend demontierte man es und baute es in erweiterter Form in Upper Norwood wieder auf. Seitdem hatte sich der gewaltige Bau mit seinem tonnenförmigen Dach, der dann 1936 abbrannte, zu einem der wichtigsten Konzertsäle der Hauptstadt entwickelt, weil er durch günstige Bahnverbindungen gut zu erreichen war, obwohl er etwas abseits vom Zentrum lag. Der Kristallpalast stellte einen für das Kultur- und Gesellschaftsleben seiner Zeit gleichermaßen charakteristischen Bau dar. Bei besonderen Anlässen wirkten dort bis zu 4000 Sänger mit, während Zehntausende von Zuhörern teils sitzend, teils in den weiten Räumen auf und ab gehend, der Musik lauschten. Die 1852 vor dem Aufbau des neuen Kristallpalastes gegründete Aktiengesellschaft „Crystal Palace Company“ hatte es sich ausdrücklich zur Aufgabe gemacht, „der Erziehung der großen Massen des Volkes und der Veredelung ihrer Erholungsgenüsse einen Universaltempel zu bauen“.9 Es war obendrein ein Musentempel mit Niveau: Der Dirigent August Manns (1825-1907), ein ehemaliger preußischer Militärkapellmeister, der Mitte der 50er Jahre nach England übergesiedelt war, hatte eine regelmäßige Konzertreihe im Kristallpalast eingeführt, bei der er die willkürliche Programmzusammenstellung der sogenannten „Benefizkonzerte“ allmählich zugunsten einer künstlerisch redlicheren Werkauswahl und anspruchsvolleren Darbietungen zurückdrängte. Die Briten konfrontierte er erstmals mit „Neutönern“ wie Wagner, Schumann und Schubert, doch Manns trug auch den Bemühungen einheimischer Komponisten Rechnung.

 

„Beethoven ist noch immer der Lieblingskomponist“, stellte Manns nach jahrzehntelanger Konzerterfahrung im Jahre 1895 fest. „Ich denke, daß eine große Mehrheit der Kompositionen Franz Schuberts und der bedeutendsten Komponisten seit Mendelssohns Tod, die jetzt zu den Repertoirestücken aller großen Konzertgesellschaften in Großbritannien gehören, erstmals bei den Samstagskonzerten im Kristallpalast vorgestellt wurden. Die Liste der einheimischen Komponisten, deren Werke vor nun schon etwa einer Generation gelegentlich bei hochklassigen Konzerten eingeführt wurden, umfaßte kaum ein Dutzend Namen; jetzt ist sie auf die respektable Zahl von achtzig angewachsen, wie das Verzeichnis der im Lauf der letzten dreißig Jahre bei den Samstagskonzerten aufgeführten Musikstücke zeigt. Sullivan, Mackenzie, Cowen, Stanford, Parry, Hamish MacCunn, Wingham und etwa siebzig weitere haben unter meiner Leitung ihre 'Debut-Taufe' erhalten.“10 Zu dieser „Feuerprobe“ hatte Arthur Sullivan seine Abschlußarbeit aus Leipzig, die Bühnenmusik zu Shakespeares letztem Drama The Tempest (Der Sturm), erweitert. George Grove, dem er das Werk zur Aufführung anbot, war gewillt, dem Nachwuchstalent eine Chance zu geben, besprach die Komposition mit August Manns, und schließlich wurde The Tempest für Samstag, den 5. April 1862 ins Programm genommen.


Vater Sullivan warnte seinen Sohn, daß er sich seelisch darauf einstellen müsse, vom Londoner Publikum in der Luft zerrissen zu werden. Doch Arthur war zuversichtlich. Er hatte das Werk seit der ersten Aufführung in Leipzig einer gründlichen Revision unterzogen, und sein Optimismus wurde nicht enttäuscht. Das Konzert wurde zu einem Triumph für Sullivan; seine Bühnenmusik, die umfangreichste Komposition jenes Abends, erzielte bei Publikum und Presse einen einhelligen Erfolg. „Er selbst und diejenigen, die zuerst die Keime seines Talents entdeckten, können durchaus stolz sein“, hieß es in der Londoner Times, und weiter: „Es genügt im Augenblick festzuhalten, daß seine Musik zu The Tempest, die eine starke Vorliebe für Mendelssohns faszinierenden Stil verrät, bemerkenswerte Vorzüge aufweist, etwa eine ausgeprägte melodische Ader, ein starkes Gefühl für dramatischen Ausdruck und glückliche Einfälle in der Orchesterbehandlung. [...] Am Schluß gab es laute Rufe nach 'dem Komponisten', der, von Mr. Manns nach vorne geführt, von allen Seiten mit dem herzlichsten Applaus bedacht wurde.“11 „Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß ich am nächsten Morgen aufwachte und berühmt war“, erinnerte sich Sullivan später, Lord Byron zitierend.12 Das Konzert bescherte ihm quasi die Eintrittskarte ins Londoner Kulturleben. Der neue Hoffnungsträger der britischen Musik fand rasch Anschluß in einem Kreis deutsch-englischer Intellektueller um den Maler Rudolf Lehmann und den Schriftsteller Charles Dickens sowie um Otto Goldschmidt – später Gründer und Leiter des Londoner Bach-Chors sowie Vize-Präsident der Royal Academy of Music – und seine Gattin, die Sängerin Jenny Lind, die Sullivan sei seiner Jugend verehrte.


Sullivans Bühnenmusik zu The Tempest war bis dahin einmalig in der britischen Musik: Die Introduktion mit ihrer verhaltenen Stimmungsmalerei und dramatischen Verdichtung erinnert in ihrer Ruhelosigkeit und Melancholie beinahe an Tschaikowsky; auch war Sullivan die Leitmotivtechnik keineswegs fremd, und einige rhapsodische, rezitativische Passagen weisen darauf hin, daß dem Briten neben Liszt auch noch Wagners Idiom geläufig war.13 In Rhythmik und Kontrapunkt findet man Bezüge zu Schumann, doch auch Mendelssohns Vorbild ist unverkennbar. Das Wiederaufleben der schöpferischen Kraft und des Gestaltungswillens britischer Komponisten, das später als die sogenannte „Renaissance der englischen Musik“ in die Kulturgeschichte einging, erfuhr am 5. April 1862, den Tag dieses denkwürdigen Konzertes, einen ersten Höhepunkt im Bewußtsein der Öffentlichkeit. Jedoch neigten spätere Generationen  wie etwa Gustav Holst bei Vorträgen in den 20er Jahren14  eher dazu, dieses Verdienst Parrys Scenes from Shelley's „Prometheus Unbound“ von 1880 oder Elgars Enigma Variations von 1899 zuzuschreiben. Dabei handelte es sich bei dieser „Renaissance“ letztlich um eine Entwicklungsspirale, deren Beginn sich nicht auf Uraufführungsdaten festlegen läßt. Vielmehr sind diese spektakulären Aufführungen und einige herausragende Namen unter hunderten britischer Komponisten äußeres Zeichen dafür, daß Großbritannien wieder eigene bedeutende Musik und Musiker besaß. Sullivans Leistungen am Anfang dieses Prozesses wurde später jedoch bewußt ignoriert und diskreditiert, weil seine Laufbahn eine Wendung nahm, die gegen die Regeln des Establishments verstieß.

 

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Kunst ja, aber bitte seriös

Doch zunächst etablierte sich Sullivan durchaus im Lager der seriösen Musik. Um ein geregeltes Einkommen zu haben, übernahm er 1861 eine Stelle als Organist an der St. Michael's Church am Chester Square, 1867 wechselte er auf einen besser dotierten Posten an der St. Peter's Church in Kensington, wo er sein Amt bis Anfang der 70er Jahre wahrnahm. Zusätzliche Verdienst-möglichkeiten bot der Verkauf von im Druck erschienenen Musikstücken  eine Folge des stark expandierenden und im hohen Maße aufnahmefähigen Musikliebhaber-Marktes, der sich um das Klavier herum gebildet hatte. Dieses Instrument war fast überall in Europa zum Sinnbild für vornehme Lebensart geworden, ein notwendiges Accessoire für gebildete junge Damen und das Herzstück jedes gesellschaftlichen Abends. Allein in Großbritannien gab es 1910 zwei Millionen Klaviere, mehr als anderswo in Europa. Die Bedeutung dieses Instruments kann man nicht zuletzt daran ermessen, daß fast alle Romanheldinnen des 19. Jahrhunderts Klavier spielten.

 

Nun ist die gesellschaftliche Entwicklung der Musik dieser Epoche ausgesprochen kompliziert und weist zahlreiche miteinander verflochtene Stränge auf. Die verschiedenen Musikgeschmäcke der Mittelklasse fanden sehr bald in den vornehmsten Salons Verbreitung, und die adeligen Kreise wandten sich mehr und mehr der im Aufschwung begriffenen Welt der „professionellen“ leichten Muse zu. Hingegen war das Bürgertum bemüht, eher die progressive Musik der „Avantgarde“ zu fördern und für jeden ersichtlich zu unterstützen. So hieß es schließlich bei Marcel Proust in der Suche nach der verlorenen Zeit über einen Aristokraten namens M. de Marsantes, der ein Faible für Offenbach hatte, daß er Wagner gemocht hätte, wäre er ein „Bourgeois“ gewesen.15 Eines der deutlichsten Anzeichen für diesen Wandel war nun die starke Verbreitung der Hausmusik in den Familien des Mittelstandes, wobei wie gesagt dem Klavier eine zentrale Rolle zukam. Bis zum Kriegsbeginn 1914 und den sich allmählich verbessernden Möglichkeiten, Musik technisch reproduzierbar zu machen, profitierten die Musikverlage in Großbritannien mehr vom Notenverkauf als von Aufführungen. 1898 bezifferte die Zeitschrift Musical Opinion die jährlichen Verkaufszahlen auf etwa 20 Millionen Stück bei 40.000 neuen Titeln, die jeweils eine Mindestauflage von 200 Exemplaren hatten.16 So wandte sich Sullivan Anfang der 60er Jahre natürlich auch der Kammermusik und Liedvertonungen zu, die „Fingerübung“ und Finanzquelle zugleich darstellten. Hierbei schöpfte der junge Komponist zumeist aus dem Fundus klassischer und romantischer Muster. Insgesamt schrieb er im Laufe seines Lebens gut 120 Lied- und Chorsätze, von denen zwischen 1876 und 1881 nur elf und in den verbleibenden 19 Jahren seines Lebens bloß noch sieben entstanden. Vorbild für sein Liedschaffen war zweifelsohne die deutsch-österreichische Tradition des Kunstliedes, die Sullivan vor allem in der Ausgestaltung des Klavierparts aufgriff. In seiner Heimat erwarb er sich früh einen guten Ruf durch die Vertonung von fünf Shakespeare-Texten  am bekanntesten ist Orpheus with his lute (aus Henry VIII) , die 1864 im Hinblick auf die Dreihundertjahrfeier entstanden. In Anbetracht der Popularität dieser Lieder dürfte er es später bedauert haben, diese Werke an den Verleger Metzler verkauft zu haben, statt sich Anteile zu sichern. Das Tantiemen-System setzte sich im Theaterbereich erst um 1860 durch, als der irische Dramatiker Dion Boucicault sich weigerte, dem Adelphi Theatre sein Stück The Colleen Bawn für eine feste Summe zu verkaufen und statt dessen eine prozentuale Beteiligung an den Einnahmen forderte.


Vielen Liedern Sullivans ist ein volksliedhafter Ton eigen, doch man findet auch für die Zeit ungewohnte harmonische und melodische Wendungen, da Sullivan mit verschiedenen kompositorischen Gestaltungsmöglichkeiten experimentierte, wobei er zum Teil Elemente aufgriff, die später anderen Tonsetzern eine charakteristische Note verleihen sollten. Bei der Textauswahl entschied sich der Komponist neben Shakespeare unter anderem für Werke von Tennyson, Kipling, Hugo, Eichendorff und George Eliot. Sullivan versuchte sich in Anlehnung an Schumanns Dichterliebe sogar an einem Liederzyklus, The Window or The Songs of the Wrens (Das Fenster oder Die Lieder der Goldhähnchen) nach Texten von Tennyson. Diesem liegt ein genauer Tonarten-Plan zugrunde, die elf Lieder zeichnen sich durch einen ausgeweiteten Klavierpart und eine Melodik aus, deren Vorbilder unverkennbar sind. Liederzyklen reizten später auch andere britische Komponisten. Hubert Parry, einer der wichtigsten Künstler in der Renaissance des englischen Liedes, veröffentlichte seit Anfang der 80er Jahre Liedersammlungen  bedeutend sind seine Songs of Farewell (1916) , Charles Villiers Stanford schrieb zwischen 1901 und 1908 sechs Zyklen irischer Lieder, und über Delius und Holst spannt sich der Bogen bis zu Britten (man denke an Seven Sonnets of Michelangelo oder Winter Words) und Tippett (Boyhood's End, The Heart's Assurance).


Sullivans populärste Liedvertonung überhaupt (und das erste Lied, das in England auf Phonographen zu hören war) wurde The Lost Chord (Der verklungene Ton), 1877 durch den frühen Tod seines erst 39jährigen Bruders Frederic angeregt. Das bewegende Stück mit einem Text von Adelaide A. Proctor ist mit seinem gefühlvollen, von religiösen Empfindungen geprägten Tonfall ein Musterbeispiel für die viktorianische Ballade und die privaten Empfindungen jener Zeit. Diese Art von Empfindsamkeit und Bewußtsein der eigenen Leidensfähigkeit – vom viktorianischen Bürgertum als Tugend gepflegt – findet sich beispielsweise auch in manchen Romanen von Charles Dickens als ein starker Appell an menschliche Emotionen in einer von berechnendem Materialismus geprägten Zeit. Allein zwischen 1877 und 1902 wurden ein halbe Million Exemplare von The Lost Chord verkauft, und noch zwischen 1912 und 1923 machte allein Enrico Caruso sieben Aufnahmen von diesem Lied. Sullivan schrieb in seinen Anfangsjahren auch Kammermusik, in der er auf der Suche nach einer ihm eigenen Ausdrucksweise bereits Wege abseits der Konvention einschlug.


Spektakulärere Erfolge brachten jedoch seine Orchester- und Chorwerke. Durch seinen Freund Michael Costa, einem italienischen Dirigenten und Komponisten, der für die Opernsaison am Covent Garden und für das Festival in Birmingham verantwortlich war, bot sich Sullivan die Möglichkeit, als Organist an den Opernproben teilzunehmen und außerdem eigene Werke aufzuführen. So mußte er 1864 für Covent Garden als Programmfüller für Bellinis La Sonnambula in kurzer Zeit ein Ballett mit dem Titel L'Ile enchantée komponieren. Mehr nach seinem Geschmack war der Auftrag, den er durch Vermittlung Costas für Birmingham erhielt: die Kantate Kenilworth, mit der er jedoch noch nicht an den Tempest-Erfolg anknüpfen konnte. Immerhin bemühten sich nun die großen Musikfestivals in anderen Städten mehr um ihn. Diese Festivals wurden seit Händels Zeiten gepflegt und gelangten zu ihrer ersten Blüte, als sie im 19. Jahrhundert allmählich als regelmäßige Einrichtungen ins Kulturleben des Landes integriert wurden. Zu den bedeutendsten gehörten das „Three Choirs Festival“, das abwechselnd in Gloucester, Worcester und Hereford stattfand, sowie das Birmingham-Festival. Hinzu kamen dann die alle drei Jahre stattfindenden Musikfeste in Norwich (seit 1824) und Leeds (seit 1858) sowie vergleichbare Veranstaltungen in Manchester, Brighton, Liverpool und anderen Städten.

 

Diese Festivals mit ihrem riesigen Aufgebot an Mitwirkenden und einer gewaltigen Zuhörerschaft, die beide nicht selten in die Tausende gingen, boten aufstrebenden Musikern die Möglichkeit, sich als Komponisten und Dirigenten vorzustellen. Sullivans erster Versuch auf dem Gebiet des Oratoriums entstand im Auftrag des Festivals in Worcester, The Prodigal Son (Der verlorene Sohn, wörtlich: Der verschwenderische Sohn), uraufgeführt am 8. September 1869; vier Jahre darauf erklang am 27. August 1873 erstmals The Light of the World bei Costas Festival in Birmingham, jeweils unter der Leitung des Komponisten. Dazwischen lag 1872 ein groß angelegtes, pompöses Te Deum, verfaßt zur Genesung des schwer erkrankten Prinzen von Wales. Sullivan gehörte damit zu jenen Künstlern der „dritten Welle“ britischer Oratorienkunst, und er war auch zugleich der älteste. In den 80er Jahren gewannen auch der Schotte Alexander Mackenzie, der Engländer Hubert Parry, der Ire Charles Villiers Stanford sowie Frederic Cowen Anerkennung. Noch Mitte des Jahrhunderts hatte der österreichische Musikkritiker Eduard Hanslick über Großbritannien geschrieben, dort sei „der Händelkultus [...] seine eigentliche musikalische Religion.“17 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich auch schon Spohr einen Namen gemacht, von dem Des Heilands letzte Stunden 1839 in Norwich als The Calvary gegeben wurde, und in besonderem Maße natürlich Mendelssohn Bartholdy, der mit seinem 1846 in Birmingham uraufgeführten Elijah ein neues Vorbild des modernen Oratoriums schuf und neben Händel zum zweiten Heroen dieser Kunstgattung wurde. Doch die kirchliche Aufführungspraxis konservierte den Status quo, so daß die britische Musik weit nach dem Entwicklungsstand auf dem Festland hinterherhinkte. Beispielsweise wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Altstimmen in Chören noch von Countertenören gesungen und für diese geschrieben – ein Umstand, den Spohr und Mendelssohn monierten – , und selbst nachher mußten bei umfangreichen Werken der Alt noch mit Knabenstimmen verstärkt werden, wodurch ein Austausch der großen Sakralkompositionen von Land zu Land erschwert wurde.


Sullivan stand mit seinen ersten beiden Oratorien noch im Schatten Mendelssohns. Er hatte für beide Stücke die benötigten Texte aus der Bibel selbst ausgewählt. In nur drei Wochen stellte Sullivan The Prodigal Son fertig, ein allseits beachteter Erstling, wenn auch nicht der große Wurf. Mit viel Lob wurde 1873 der zweite Anlauf auf dem Gebiet der Oratorienkunst bedacht, The Light of the World. „Das Licht der Welt“ ist ein sehr protestantisches Bild von Jesu Appell an das christliche Gewissen, ideal versinnbildlicht in Holman Hunts zwischen 1853 und 1856 entstandenen Gemälde eines Christus mit brennender Laterne. Auch mit dieser Sakralkomposition kam Sullivan den Erwartungen und den religiösen Gefühlen seiner Zeit entgegen, und der Komponist Alexander Mackenzie bescheinigte dem Werk später in seinen Erinnerungen, daß es nicht nur einen großen Teil der besten Musik Sullivans enthält, sondern auch von „aufrichtigen religiösen Empfinden“ geprägt ist.18 In den Pressebesprechungen pries man die „Schöpferkraft“ des jungen Komponisten und der Observer formulierte als Schlußfolgerung, was wohl viele Kunstgenießer in Zukunft erwarteten: „Zusammenfassend läßt sich sagen, daß The Light of The World ein großes Werk ist und daß wir nun mit Zuversicht von Mr. Sullivan sakrale Kompositionen höchsten Ranges erwarten können, denn die Ursprünglichkeit seines Genies hat sich vom sirenengleichen Einfluß Mendelssohns gelöst, dessen faszinierender Stil schon so oft neue Talente zerstört hat.“19


Zwar war diese Loslösung noch nicht restlos vollzogen, doch begründete Sullivan mit seinen Oratorienkompositionen zusammen mit Musikern wie Alexander Macfarren (1813-1887), der 1873 mit St John the Baptist in Bristol Aufsehen erregt hatte, eine Art neuer „englischer Schule“. Diese strebte danach, die dramatische Natur des Oratoriums zu betonen und sich von den bei den Vorgängern üblichen Zugeständnissen an beliebte Musikformen allmählich zu lösen. Dabei versuchte man durch zahlreiche selbständige Orchestersätze sowie durch einen starken Anteil der Instrumente an den Gesangsnummern an die Entwicklung des kontinentalen Stils, z. B. an Liszt, anzuknüpfen. Selbst Königin Victoria war entzückt und meinte, Sullivans neues Werk sei „dazu bestimmt, die englische Musik wieder aufzurichten“.20 Sie bat den Komponisten sogar, ihr eine vollständige Ausgabe seiner Werke zu senden, eine Ehre, die noch nicht einmal Mendelssohn zuteil geworden war. Sie sandte ihm ihrerseits – ebenfalls ein Zeichen ihrer Wertschätzung – einige Hobbykompositionen ihres 1861 verstorbenen Gemahls Albert.


Vielfach Beachtung fanden auch Sullivans Orchesterwerke, etwa die Konzertouvertüren In Memoriam, Marmion oder die Di ballo-Ouvertüre, und seine Bühnenmusik zu Shakespeare-Dramen. Zudem komponierte er ein Cello-Konzert für den berühmten Virtuosen Alfredo Piatti und eine Sinfonie in E-Dur, die sogenannte „Irische Sinfonie“, die 1866 zurecht begeistert aufgenommen wurde. Dies geschah zu einer Zeit, wohlgemerkt, als sich Künstler wie Brahms, Tschaikowsky oder Dvorák als Sinfoniker noch keinen Namen gemacht hatten. Über Sullivans Sinfonie schrieb man in der Times, sie sei nicht nur das bislang bemerkenswerteste Opus aus seiner Feder, sondern das „allein an der Größe seiner Form und der Anzahl der schönen Einfälle gemessen für lange Zeit beste Musikstück eines englischen Komponisten“.21 Obwohl Arthur Sullivan sogar international Aufmerksamkeit erregte und der erste englische Komponist war, von dem ein Werk bei den Pariser Konservatoriums-Konzerten erklang, ließ er die Gelegenheit ungenutzt, sich in den folgenden Jahren mit weiteren Werken als Sinfoniker zu etablieren. Diesen Rang sollte für England später der 1872 geborene Ralph Vaughan Williams mit seinen neun großen Sinfonien beanspruchen, die qualitativ die Arbeiten emsigerer Kollegen wie Robert Simpson (bislang 10 Sinfonien) oder Havergal Brian (32 Sinfonien) ausstachen.

 

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Der verlorene Sohn

Finanziell hielt Sullivan das Komponieren „ernster“ Musik für weniger lukrativ. Doch weder öffentliche Anerkennungen noch Prämien, die er ab einer bestimmten Zuschauerzahl bei Aufführungen seiner großen, nicht-szenischen Werke erhielt, vermochten ihn dazu zu veranlassen, sich gänzlich der Kirchen- oder Orchestermusik zu verschreiben. Erst Jahre später sollte er sich dieser Spezies wieder zuwenden: Nachdem London 1883 Bekanntschaft mit Berlioz' epochalen Opus La Damnation de Faust (1846) gemacht hatte, das Sullivan später selber aufführte, war auch die Zeit gekommen, um mit The Golden Legend seine reifste Arbeit in der Gattung Oratorium zu schaffen.


Diejenigen, die von Sullivan nun ständig neue sinfonische und sakrale Werke forderten, schienen zu verkennen, daß sein Lebensstandard und damit auch seine Ansprüche gestiegen waren, sogar steigen mußten, weil er durch das wachsende Ansehen zu einem Liebling der High Society geworden war, der auch freundschaftlichen Umgang mit Mitgliedern der königlichen Familie pflegte, darunter mit Edward, dem Prinzen von Wales und zukünftigen König. Mit dem jüngeren Bruder des Prinzen  Alfred, dem Herzog von Edinburgh , einem begeisterten Geigenspieler, verband Sullivan eine enge Freundschaft, die der Komponist dadurch festigte, daß er sich bereitwillig als Klavierbegleiter zur Verfügung stellte. Indes dürfte gerade dem Berufsmusiker nicht entgangen sein, was selbst dem Stallmeister des adeligen Herren auffiel: „Nur wenige Leute fiedelten scheußlicher.“22 Der Punch-Karikaturist Linley Sambourne zeichnete denn auch einen wild gestikulierenden Orchesterleiter Sullivan, dem als Dirigentenpodium der Geigenkasten des Herzogs von Edinburgh dient. Man kann Sullivan allerdings nicht verdenken, daß er diesen gesellschaftlichen Aufstieg in vollen Zügen genoß. Hinzu kamen eine immer größer werdende Reiselust, und die Leidenschaft für Pferderennen und Glücksspiele, vor allem Karten und Roulette. 1867 sei Sullivan nahe an die Grenze zwischen der „Society (mit dem großem S)“, d.h. der 'feinen' Gesellschaft der 'Oberen Zehntausend', und der „society (mit dem kleinen s)“,
d. h. der großen Gemeinschaft geraten, konstatierte später sein ehemaliger Klavierlehrer an der Akademie, William Sterndale Bennett. „Es wäre für die Musik vielleicht besser gewesen, wenn er diese Linie nie überschritten hätte, aber das war fast unvermeidbar. Die feine Gesellschaft, die weitgehend ein leeres und fades Leben führt, will sich amüsieren und kann es sich nicht leisten, bei den Unterhaltungskünstlern wählerisch zu sein. So kam es, daß Sullivan, der sich bereits auf der Seite der Engel befand – sofern man diese Stellung einem Kirchenorganisten zubilligen kann –, zum Schmetterling wurde, ein Freund von gekrönten Häuptern und ein Liebling der Salons. Er konnte sich kaum helfen, der arme Junge! War er doch beherrscht von seinen faszinierenden Talenten und seinem sonnigen Temperament.“23


Um sich allerdings diesen gehobenen Lebensstil leisten zu könnten, benötigte Sullivan eine Einnahmequelle, aus der die finanziellen Mittel reichhaltiger flossen als aus den wohlmeinenden Tantiemen für Orchesterstücke, Lieder und Sakralkompositionen. Diese lohnenden Verdienstmöglichkeiten bot das Musiktheater, insbesondere die komische Oper. Sullivans Spagat zwischen Theater und Konzertsaal brachte ihn indes in einen Zwiespalt, der bestimmend für sein weiteres Leben werden sollte. Sein Interesse an der Oper wurde erstmals durch Rossini geweckt, den er 1862 in Paris kennengelernt hatte, wo der berühmte Italiener sich seit gut dreißig Jahren niedergelassen hatte. „Ich glaube, daß er der erste war, der mich mit einer Liebe zur Bühne und allem, was mit Oper zusammenhängt, begeistert hat“, meinte Sullivan später über Rossinis Bedeutung für sein Schaffen.24 „Bis zu seinem Tod besuchte ich Rossini weiterhin jedesmal, wenn ich nach Paris kam“, berichtete Sullivan, „und nichts trübte das herzliche Verhältnis unserer Freundschaft.“25 Zwar war Rossini vornehmlich Opernkomponist gewesen, doch auch sein Schaffen war geprägt von einem durchaus kreativen Spannungsverhältnis, nämlich dem zwischen Opera seria und Opera buffa. Kennzeichnend für Sullivans künftige Laufbahn wurde der Konflikt zwischen der „ernsten“ Musik und der Komposition komischer Opern, der durch Reaktionen von außen noch verschärft wurde.

 

Als Sullivan 1883 für seine Verdienste als bedeutendster Komponist des Landes zum Ritter geschlagen wurde und sich fortan Sir Arthur Sullivan nennen lassen konnte, galt diese Auszeichnung dem Komponisten von Oratorien und Orchesterwerken. In der Presse sah man sich veranlaßt, den so Geehrten wieder auf den rechten Weg zurückzubringen. „So manche Dinge, die Mr. Arthur Sullivan tun mag, sollte Sir Arthur nicht machen“, räsonierte der Kritiker der Musical Review. „Mit anderen Worten: Es sähe wirklich mehr als merkwürdig aus, würde man in den Zeitungen die Ankündigung lesen, daß eine neue komische Oper in Vorbereitung sei mit dem Libretto von Mr. W.S. Gilbert und der Musik von Sir Arthur Sullivan. Ein Musiker, der in den Ritterstand erhoben wurde, kann schwerlich Kaufhaus-Balladen schreiben – er darf nicht wagen, sich mit etwas Geringerem als einem Anthem oder einem Madrigal die Hände schmutzig zu machen; er sollte sich vielmehr in Richtung Oratorium, wo er ja bereits geglänzt hat, und Sinfonie orientieren. Hier liegt nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine positive Verpflichtung für ihn in die Sphäre zurückzukehren, die er schon vor zu langer Zeit verlassen hat.“26 Wenig Beachtung schenkte man der wechselseitig förderlichen Beeinflussung von ernster und leichter Muse, wie man sie sowohl bei Rossini als auch bei Sullivan findet. Beiden Künstlern erging es später wie dem Komiker, dem man keine Sterbeszene gönnt.

 

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Sullivan und Gilbert

Sullivans erste Versuche auf dem Gebiet der komischen Oper waren der Einakter Cox and Box (1866) und die zweiaktige Oper The Contrabandista (1867). Besonders Cox and Box zeigt in komprimierter Form, mit wie viel Finesse und musikalischen Witz ein versierter „seriöser“ Musiker einen komischen Stoff zu gestalten vermag. Dies fiel auch einem der Rezensenten auf, einem gewissen W.S. Gilbert, der in der Zeitschrift Fun schrieb: „Die Musik von Mr. Sullivan steht an vielen Stellen auf einer zu hohen Stufe für die grotesk absurde Handlung, mit der sie verknüpft ist. Sie ist hier und da komisch sowie vornehm und graziös, wo sie nicht komisch ist; aber das Vornehme und Graziöse beanspruchen meiner Meinung nach einen zu großen Teil der Ehre für sich.“27


Sullivan begegnete Gilbert vermutlich erstmals im Juli 1870. Dieser William Schwenck Gilbert (1836-1911) war fünfeinhalb Jahre älter als Sullivan und galt zu diesem Zeitpunkt als einer der renommiertesten zeitgenössischen Theaterautoren Englands – 1912, ein Jahr nach seinem Tod, apostrophierte ihn das angesehene Literaturmagazin Fortnightly Review sogar als „englischen Aristophanes“. Er war ein cholerischer, vor Geist sprühender Zeitgenosse, der sich nach einigen erfolglosen Jahren als Anwalt zunehmend literarischen Aktivitäten zuwandte. Er betätigte sich als bissiger Theaterkritiker, Korrespondent, Schriftsteller und Zeichner. Einen Namen machte er sich vor allem durch die von ihm selbst mit Karikaturen verzierten Bab Ballads, die seit 1862 in der Zeitschrift Fun veröffentlicht wurden und wegen ihres Erfolges nachher auch in Buchform herauskamen. Dabei handelte es sich um Nonsense-Lyrik in der Tradition von Edward Lear, reich an phantasievollen Wortspielen und witzigen Formulierungen, die später oft als Grundlage der Textbücher für Sullivan diente. Die Themen stammten hauptsächlich aus den Bereichen Kirche, Marine, Militär, Justiz und Theater. Mit „Bab“, Gilberts Kosename als Baby, waren auch die Karikaturen signiert (einen analogen Ursprung hatte ja auch Dickens' Pseudonym „Boz“). Mit Gilbert sollte Arthur Sullivan eine überaus ergiebige Arbeitsgemeinschaft verbinden, solange beide die gleichen Interessen verfolgten. Beide Männer waren mit Unterbrechungen 25 Jahre lang künstlerisch und geschäftlich Partner, und in nur dreizehn dieser ereignisreichen Jahre – zwischen 1875 und 1889 – entstanden die Werke, die beiden den Nachruhm sichern sollten. Stets blieb jedoch eine gewisse Distanz gewahrt; man zollte dem anderen Respekt und Anerkennung für die Meisterschaft, die er in seinem Metier erreicht hatte, doch für ein persönliches Näherkommen stand zwischen den beiden die nahezu unüberwindliche Barriere unterschiedlicher Temperamente.28
Die erste Zusammenarbeit bei der Oper Thespis im Dezember 1871 war eine ebenso flüchtige Episode wie die kurze Begegnung im Sommer des Vorjahres. Vermittelt hatte diese kurze Kooperation der Manager des Gaiety Theatre, John Hollingshead. Dieser war jedoch, obwohl einer der innovativsten Theaterleiter seiner Zeit, zu sehr Geschäftsmann, um zu realisieren, daß aus dem Zusammenwirken zwischen Englands bedeutendstem lebenden Komponisten und dem erfolgreichen Schriftsteller etwas Besonderes entstehen könnte. In der ersten komischen Oper von Gilbert und Sullivan, Thespis or The Gods Grown Old (Thespis oder Die Götter sind alt geworden), tauschen Jupiter und seine Götterschar, ihres Amtes überdrüssig, für ein Jahr ihre Rollen mit dem Mimen Thespis und seiner Truppe fahrender Schauspieler, die im Olymp ein heilloses Durcheinander anrichten. Auf einmal gibt es bei Bacchus Ingwerbier statt Wein, und Kriegsgott Mars wird zum Pazifisten! Bereits in diesem ersten Stück deutete sich das für Gilbert so bezeichnende „Topsyturvydom“ an  die verkehrte Welt des Kladderadatschwitzes. Dieser für die Gilbert & Sullivan-Stücke kennzeichnende „Irrsinn mit Methode“ im Stile der Rossinischen Opera buffa zeigt eine auf den Kopf gestellte Welt, wie man sie beispielsweise aus den Filmen Chaplins, der Marx Brothers oder von Laurel & Hardy kennt. Die laue Publikumsreaktion auf Thespis mag an der oberflächlichen Vorbereitung der Aufführung und den teilweise schauderhaften Gesangsleistungen gelegen haben. „Damals gab es vergleichsweise wenig Schauspieler und Schauspielerinnen, die singen konnten“, erinnerte sich Sullivan, „und von denen, die so taten als ob, erreichten kaum jemand mehr als sechs Noten. Natürlich hatte ich mich als Komponist ziemlich einzuschränken, da ich Vokalmusik für Leute ohne Stimme schreiben mußte!“29 Mit nur 63 folgenden Aufführungen kann man durchaus vom Urteil „durchgefallen“ sprechen, da damals wesentlich längere Laufzeiten üblich waren. Dieses Aufgeben des alten Repertoiresystems zugunsten des „long-run system“ wurde durch den Übergang zu langwierigen und sorgfältiger erarbeiteten Produktionen bedingt, ermöglicht durch die Verbesserungen der Bühnentechnik, der Beleuchtung (ab 1820 verwendete man Gas statt Kerzen und Öllampen) und die Herausbildung der Guckkastenbühne und die geschlossene Kulissenbauweise. Von Thespis ist lediglich das Libretto überliefert, die Komposition erschien nicht im Druck und ging weitgehend verloren. Der Plan, dieses Stück noch einmal auf die Bühne zu bringen, stand nachher nicht mehr ernsthaft zur Debatte, ganz einfach weil das Werk nicht zu dem Stil der neuen komischen Oper, wie sie unter Cartes Oberherrschaft initiiert wurde, paßte. So komponierte Sullivan für den beliebten Gaiety-Star Nelly Farren noch eine Hosenrolle (Merkur), doch später entschloß man sich „aus künstlerischen Gründen“, so Gilbert, dazu, „daß kein Mann eine Frauenrolle und keine Frau Männerrollen spielen soll.“
Nach den schlechten Erfahrungen mit Thespis gingen Arthur Sullivan und William Schwenck Gilbert vorerst weiterhin getrennte Wege, dennoch behielt das Theater seine Anziehungskraft für Sullivan. Allerdings war eine Persönlichkeit anderen Formats erforderlich, um die künstlerische Beziehung zwischen Sullivan und Gilbert voll zur Entfaltung zu bringen: Richard D'Oyly Carte (1844-1901). Carte, zwei Jahre jünger als Sullivan, hatte zunächst als Angestellter bei dem Instrumentenhersteller Rudall, Carte & Co. gearbeitet, gründete aber bald darauf eine eigene Künstler- und Konzertagentur, die unter anderem die Patti, den Startenor Mario, den Schriftsteller Matthew Arnold und später auch Oscar Wilde betreute. 1870 wurde Carte Manager im Royalty Theatre in Soho, das die Sängerin Selina Dolaro finanzierte, die dort vor allem selbst in den neuesten Opéras bouffes Offenbachs brillieren wollte. Carte hegte indes schon beizeiten Pläne, eine nationale englische (komische) Oper in einem eigenen Theater zu etablieren, wofür der gewiefte Impresario natürlich die geeigneten Künstlerpersönlichkeiten benötigte. Sullivan zur Seite stellte er keinen geringeren als William Schwenck Gilbert, denn im Gegensatz zu Hollingshead ahnte er, welche Möglichkeiten in dieser Verbindung liegen könnten.
Zur ersten Zusammenarbeit von Gilbert und Sullivan für Carte kam es 1875 bei dem Einakter Trial by Jury (Schwurgerichtsprozeß), der als „curtain raiser“, als Vorlaufstück, zu Offenbachs La Périchole gegeben wurde. Bei dieser „Dramatischen Kantate“, so die Bezeichnung, handelt es sich um ein Glanzstück musikalischer Satire, bei dem Sullivan in knapp fünfzig Minuten alle Register seines Könnens zieht. Neben melodischer Fülle findet man musikalische Karikaturen von sprachlichem Habitus (beim Lied des Anwalts), hinzu kommen Parodien auf Händelsche Chorsätze (beim Auftritt des Richters) und auf italienische Opernensembles, hier mit „A nice dilemma“ direkt bezogen auf „D'un pensiero“ aus dem Finale des 1. Aktes von Bellinis La Sonnambula, wobei die Anwesenden im Gerichtssaal ihrem Erstaunen über den heiklen Fall Ausdruck verleihen, während sich in der italienischen Oper die Dorfbewohner Gedanken über die Unschuld der Titelheldin machen. Shaw, der kaum als ein Anhänger Sullivans zu bezeichnen ist, mißbilligte diese Parallele: „Als Offenbach Orphée aux Enfers schrieb, hat er natürlich das Klassische auf die Schippe genommen, aber er verschonte Gluck: In der Olymp-Szene baut er keine Parodie von 'Che faro' ein, sondern die Arie selbst [...] Aber Sullivan verulkt böswillig 'D'un pensiero' in dem Quintett mit Chor 'A nice dilemma'. Wäre es 'Chi mi frena' oder 'Un di si ben' gewesen, hätte man noch lachen können; aber das unschuldige, zarte, anrührende, altgeliebte 'D'un pensiero'! Nur ein unverbesserlicher Spötter hätte es für seinen Hohn wählen können. Mit diesem Verbrechen mordete Sullivan seine bessere Natur.“30
Doch Sullivan hatte gar nicht im Sinn, Offenbach und den anderen Konkurrenten aus Frankreich nachzueifern. „Macfarren hat ihn [in der Encyclopaedia Britannica] als 'englischen Offenbach' tituliert  ein außergewöhnlich unpassender Vergleich“, schrieb Alexander Mackenzie 1927 rückblickend, „denn obwohl der Pariser Komponist ganz gewiß nicht ohne Genie war, gibt es jedoch zwischen ihren Methoden nicht die geringste Ähnlichkeit und noch weniger zwischen der besonderen Qualität der Libretti, die sie vertonten.“31 Sullivan hatte einen viel weiteren Horizont und griff Anregungen der opéra comique Aubers ebenso auf wie Elemente der deutschen Spieloper von Mozart und Lortzing sowie der komischen Opern Rossinis.32
Trial by Jury wurde ein so durchschlagender Erfolg, daß es sogar dem Hauptstück des Abends den Rang ablief und noch weiter im Programm blieb, als dieses längst abgespielt war. Noch im selben Jahr versuchte sich Sullivan an einer weiteren kurzen Musikkomödie, dem Einakter The Zoo, diesmal jedoch ohne Beteiligung Gilberts.
Schließlich lockte 1877 abermals Carte mit einer neuen Kooperation. Der Titel dieser „Entirely New and Original Modern Comic Opera“ von Gilbert sollte The Sorcerer (Der Zauberer) lauten. Mit dieser Oper begann ein neues Kapitel in Londons Theatergeschichte. Richard D'Oyly Carte hatte Ende 1876 die Comedy Opera Company Ltd. gegründet und wurde Manager der Opéra Comique, einem kleinen Theater in der Londoner Theatermeile „Strand“. Der erste große Auftrag ging an Sullivan und Gilbert, die ein längeres Werk mit zwei Akten liefern sollten. Neu war eine Vertragsklausel, die beiden bereits nach Ablieferung des Stückes ein Honorar zugestand.
In The Sorcerer gewinnt Gilbert dem Thema „Liebestrank“ eine neue Variante ab. Hier handelt es sich im Gegensatz zu Donizettis L'elisir d'amore um einen wirklichen Liebestrank; außerdem bringt das magische Getränk nicht wie in Wagners Tristan und Isolde latent vorhandene Gefühle erst zum Ausbruch, sondern ein echter Zauberer stiftet Verwirrung und Liebesgluten zwischen zuvor sich völlig desinteressiert bzw. neutral gegenüberstehenden Personen. Der Grund für diese Gefühlsmanipulation ist, daß der verliebte Alexis wünscht, alle Welt solle das gleiche Glück wie er selbst empfinden. So verursacht er mit Hilfe des Berufszauberers John Wellington Wells  eine Rolle, die ursprünglich für Sullivans im selben Jahr verstorbenen Bruder Fred gedacht war  im Dorf ein sommernachtstraumartiges Liebeschaos. Mit seinem Anspruch der Unbedingtheit stiftet Alexis aber nur Unheil und gefährdet seine eigene Liebe, weil er von seiner Verlobten verlangt, ebenfalls den Liebestrank einzunehmen, um sie für immer an sich zu binden. Der Zauber, der aus jedem unverheirateten Betroffenen einen (männlichen oder weiblichen) Don Juan macht, wird letztlich gelöst durch eine selbstaufopfernde „Höllenfahrt“ des Mr. Wells. Diese ist übrigens der einzige wirklich vollzogene Selbstmord in den Opern von Gilbert und Sullivan, in denen neben einigen versuchten Selbsttötungen (HMS Pinafore, Mikado) der Suizid auch zur Auflösung eines Paradoxons herangezogen wird (Ruddigore) – Topsyturvydom der makabersten Art.
„Ein Philosoph hat einmal das Komische in der Kunst als ein 'enges und unvermutetes Nebeneinander völlig unvereinbarer Dinge' charakterisiert“, schrieb der Rezensent des Examiner33 und bezog dies vor allem auf die Figur des Zauberers Wells, doch die Umschreibung trifft auch auf alle weiteren komischen Opern von Gilbert und Sullivan zu. Für die Menschen der bewegten Epoche zwischen 1789 und 1914 konnte Thomas Mores (Morus) Vorstellung vom Überwinden des irdischen Leidens als Heilsweg zur ewigen Verheißung auf Dauer keinen Trost mehr spenden. In den Opern von Gilbert und Sullivan zeigt sich die aufkeimende Unsicherheit im „goldenen Zeitalter der Sicherheit“, wie Stefan Zweig die vermeintliche Ruhephase in den europäischen Monarchien vor dem Feuersturm des Ersten Weltkrieges umschrieb. Die Zerrissenheit der damaligen Epoche spiegelt sich in einem blinden Fortschrittsglauben einerseits und dem Zerbrechen des alten Weltbildes andererseits. Nicht nur die Schriften von Darwin, sondern auch die Hauptwerke Schopenhauers und Nietzsches fanden in England Verbreitung und hoben die alten Wertvorstellungen aus den Angeln, und in den Romanen von Thomas Hardy und Oscar Wilde zeichnete sich viel von der Weltuntergangsstimmung des Fin de siècle ab. Shaw legte jedoch auch Wert auf die Feststellung, daß „die von Schopenhauer, Wagner, Ibsen, Nietzsche und Strindberg hervorgerufene Bewegung eine Welt-Bewegung war und ihren Ausdruck auch dann gefunden hätte, wenn jeder dieser Schriftsteller in der Wiege umgekommen wäre. [...] Heute lebt die Bewegung in der Philosophie Bergsons und in den Stücken von Gorki, Tschechow und der englischen Dramatik seit Ibsen.“34 Genauso wie zuvor in den Werken Rossinis, die in der unsicheren Zeit nach dem Wiener Kongreß entstanden, spiegelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Opern von Gilbert und Sullivan das Groteske der eigenen Epoche.
Sullivan erzielte erstmals einen Erfolg mit einer längeren Vertonung für die Bühne. Dabei ist The Sorcerer noch die lyrischste seiner komischen Opern mit ihren gefühlvollen Arien und Duetten sowie den noch ausgedehnten Rezitativen, während in späteren Werken der Dialog zwischen den Musiknummern sowie prägnantere parodistische und satirische Elemente größeren Raum einnehmen. Bereits in The Sorcerer zeigt sich Sullivans Meisterschaft, das Finale des 1. Aktes, in dem die Verwicklungen kaum noch zu überschauen sind, im Geiste Rossinis zu einem dramatisch effektvollen, mitreißenden Höhepunkt zu führen. Die musikalische Sogwirkung wird durch ein „Kulminationsprinzip“ in der Art von Rossinis Barbiere di Siviglia (Finale I) oder Mozarts Nozze di Figaro (Finale II) erzielt; hingegen hat der Tanz, der wie beim Can-Can-, Walzer- oder Czárdástaumel ein wesentliches Gestaltungselement der Opéra bouffe von Offenbach und der Wiener bzw. Ungarischen Operette von Strauß und Kálmán ist, bei Sullivan sekundäre Bedeutung und dient eher zur (nationalen) Identifikation bzw. Charakterisierung statt als Ausdruck eines Lebensgefühls. Bezüge zu Mozart gibt es nicht nur in den Rezitativen von The Sorcerer, sondern auch hinsichtlich der harmonischen Verbindungen.35 Das Auftrittslied des Magieprofis Wells ist ein „Patter-Song“ für einen Vollblutkomiker, ein „Plapperlied“ im Stile des italienischen Parlando, wie es in fast allen folgenden Stücken seinen festen Platz finden sollte. Mit The Sorcerer bildete sich bereits der seinerzeit übliche Grundstamm eines festen Ensembles für alle weiteren Produktionen der Gilbert und Sullivan-Opern heraus: Tenor und Sopran als Liebhaber, Mezzosopran und Bariton als eine weitere junge Frau nebst Galan, ein Bariton als Komiker sowie Baß und Alt für ein in die Jahre gekommenes Paar. Darin taucht wieder die Struktur der Typenkomödie auf, wie sie in der Commedia dell'arte ihren Ursprung hat. Die Basis für eine völlig neue Art von Musiktheater war also geschaffen.

 

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Eine komische Oper neuen Stils

Gilbert übernahm wie auch bei allen weiteren Produktionen die Regie, doch auf eine Art und Weise, die für die damaligen Verhältnisse an den Theatern durchaus einer Revolution gleichkam. Die komischen Opern von Gilbert und Sullivan stellten einen Kontrast zu dem bisherigen Unterhaltungsangebot Londons dar, der eine Analogie in der revolutionär subtilen Komik hat, die Chaplin beim Film in die Slapstick-Comedies einbrachte. In der Hauptstadt des Empire genoß man Kultur stets im großen Rahmen: Aufwand zählte oft mehr als Gehalt, und die Konkurrenz um die Gunst des Publikums war hart. Man errichtete Riesenbauten, die teilweise bis zu 3500 Zuschauer fassen konnten, wobei jedoch, bedingt durch mitunter schlechte Sicht und Akustik auf den bis zu sechs Rängen, mehr die große, imposante Geste und weniger gewandtes Agieren gefragt war. Originalwerke gab es kaum, vielfach handelte es sich um Bearbeitungen französischer Stücke. Allmählich hatte sich aber die Publikumsstruktur gewandelt, da gerade Königin Victoria durch ihr Interesse an der Theaterkunst die Bürger aus dem Mittelstand und den oberen Schichten zur Nacheiferung anregte, wodurch sie sogar in diesen Kreisen Theaterbesuche gesellschaftsfähig machte. Vorbild für die Reform von Gilbert und Sullivan im Bereich des Musiktheaters war der Schauspieler und Dramatiker Tom Robertson (1829-1871), der Gilbert durch sein Bemühen um eine realistische Darstellungsweise beeindruckt hatte. „Er erfand die Personenführung auf der Bühne“, berichtete Sullivans Partner. „Vor seiner Zeit war es eine unbekannte Kunst. [...] Robertson zeigte nun, wie man Leben, Vielfalt und Natürlichkeit in die Szene einbringen konnte, indem man sie mit allen möglichen kleinen Episoden und feinen Nebenhandlungen auflockerte. [...] Er paßte jeden Charakter mit äußerster Genauigkeit dem Mann oder der Frau an, der oder die ihn zu verkörpern hatte; und er brachte allen jede Bewegung und jede Betonung genau bei.“36


Diese Tugenden machte sich auch Gilbert zueigen, der gegebenenfalls seinen Interpreten die Szene selbst so vorspielte, wie er sie sich gedacht hatte. „Er duldete weder derbe Späße, Schabernack, grelle Schminke, rote Pappnasen noch alberne Verballhornungen durch Kostüme und Gestus“, erinnerte sich die Sängerin Jessie Bond, später eine der führenden Kräfte des Savoy-Ensembles. „Alles mußte natürlich sein, gesittet und vergnüglich, wobei den Darstellern beigebracht wurde, dadurch Wirkung zu erzielen, daß sie die absurdesten Dinge auf eine vollkommen nüchterne, sachliche Art und Weise sagten oder taten.“37 Bezeichnenderweise ordnete Hanslick bei seiner Schilderung des englischen Theaterlebens in den 80er Jahren Sullivans Werke unter „Schauspiel in London“ ein und legte mit seinem Verdikt über „derbe Operetten wie der Mikado“ wahrscheinlich den Grundstein für spätere Vorurteile, während in deutschen Musiklexika der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts noch von Sullivan als ernstzunehmenden Komponisten und Schöpfer „komischer Opern“ die Rede war.


Auch der Chor erlangte beim „englischen Aristophanes“ eine völlig neue Bedeutung. „Bis Gilbert die Sache in die Hand nahm, kam den Chören nur eine Statistenrolle zu; praktisch waren sie kaum viel mehr als ein Teil der Bühnendekoration“, sagte Sullivan38 , der sich seinerseits auch für eine genaue Wiedergabe seiner Musik einsetzte und sie sorgfältig mit allen Beteiligten einstudierte, wobei er jedoch auf den Proben viel freundlicher und weniger cholerisch war als Gilbert. Trotzdem zeigte er sich in Fragen der musikalischen Qualität nicht weniger unnachgiebig und kämpfte vehement gegen entstellende Bearbeitungen und verfälschende Wiedergaben seiner Werke. „Orchesterfarben spielen in meinem Werk eine so große Rolle, daß es seinen Reiz verliert, wenn sie ihm genommen werden“, schrieb er an einen Freund in den USA,39 doch auch im eigenen Land hatte er sich mit urheberrechtlichen Problemen auseinanderzusetzen. Als ihm beispielsweise 1889 zu Ohren kam, daß die Kapelle eines Garderegiments von seinem Lied The Lost Chord ein Tanzarrangement erstellt hatte, drohte er, gerichtlich vorzugehen, falls das Werk „als Hornpipe verunstaltet“ aufgeführt werden sollte.


Ungeachtet des Publikumserfolgs mußte sich Sullivan allmählich auch an Kritik gewöhnen, wie sie der Rezensent der Londoner Zeitung Figaro formulierte, der sich enttäuscht zeigte von „dem absteigenden Weg der Kunst, auf den Sullivan anscheinend gerät.“ Er habe zwar „alle Befähigung zu einem großen Komponisten, aber er wirft diese vorsätzlich weg. Ein Riese mag zwar zuweilen spielen, aber Mr. Sullivan spielt ständig.“40 Dieser „spielende Riese“ Sullivan jedoch schrieb fünf Tage nach der ersten Aufführung von The Sorcerer hocherfreut an einen Freund, wenn das Werk ein Erfolg werde, dann sei es „ein weiterer Nagel im Sarg der Opéra bouffe der Franzosen“.41


Carte hatte bei seinen Plänen, eine nationale komische Oper zu etablieren in bezug auf die Künstler die richtige Wahl getroffen. Durch die finanziellen Erfolge der kommenden Jahre war es ihm möglich, sich von den Geldgebern der „Comedy Opera Company“ zu lösen und die eigene „D'Oyly Carte Opera Company“ zu gründen. Für die Opern von Gilbert und Sullivan konnte er Anfang der 80er Jahre dank der finanziellen Erfolge ein eigenes Theater bauen. Das Savoy Theatre wurde mit einer Übernahme der Oper Patience aus der Opéra Comique am 23. April 1881 als eines der technisch fortschrittlichsten Häuser seiner Zeit eröffnet. Unter anderem war es das erste vollständig mit elektrischem Licht ausgestattete Theatergebäude der Welt. Mit den sogenannten „Savoy Operas“  ein Terminus, der erst heute zum Synonym für die Werke von Gilbert und Sullivan geworden ist, ursprünglich aber alle im Savoy Theatre uraufgeführten Stücke bezeichnete  entstand die einzige gattungstypologische Neuentwicklung im englischen Drama des späten 19. Jahrhunderts. Das Savoy Theatre, neben dem man 1889 das luxuriöse Savoy Hotel bauen konnte, wurde zum Stammhaus der Opern von Gilbert und Sullivan. In diesen Werken nahm man in den folgenden Jahren die Stärken und Schwächen der eigenen Landsleute ins Visier  nun fanden die Spitzen aus Literatur und Bildsatire auch Eingang auf die Musikbühnen.


In der Zusammenarbeit von Gilbert und Sullivan entstanden unter Cartes Management die Opern HMS Pinafore (1878), eine Satire über die Marine; The Pirates of Penzance (1880), gleichfalls ein Bühnenwerk mit Seitenhieben auf Politik und Gesellschaft; Patience (1881), eine Satire auf den Ästhetizismus und eigentlich alle Formen unreflektierter Kunstverehrung; Iolanthe (1882), eine politische Satire, bei der Abgeordnete des englischen Oberhauses in Konflikt mit dem Feenreich geraten; Princess Ida (1884), eine Satire auf die radikale Frauenbewegung;
The Mikado
(1885), eine Satire auf gesellschaftliche Übel aller Art im Gewand eines pseudo-japanischen Milieus; Ruddigore (1887), eine Satire auf die Horrorwelle in der Literatur;
The Yeomen of the Guard
(1888), eine komische Oper mit tragischem Unterton; The Gondoliers (1889), eine komische Oper nicht ohne satirische Spitzen; Utopia Limited (1893), die radikalste Polit-Satire von Gilbert und Sullivan; sowie The Grand Duke (1896), ein nicht mehr ganz gelungener Nachzügler. Daß die damalige Aktualität der Stücke auch heute noch zum großen Teil gegeben ist, und das gewiß nicht nur für England, zeigt eine Beschreibung des Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton, der 1907, als eine Aufführung von The Mikado verboten wurde, in einem Artikel beschrieb, wie wenig das Stück mit Japan und wie viel es mit den eigenen gesellschaftlichen Mißständen zu tun hat. Über die Figur des Pooh-Bah, des „Ministers für alle sonstigen Angelegenheiten“ heißt es: „Für England ist Pooh-Bah mehr als eine Satire, er ist die Wahrheit. Es ist nun einmal wahr, daß wir in der britischen Politik (möglicherweise nicht in der japanischen) dem gleichen Mann zwanzig Mal in zwanzig verschiedenen Funktionen begegnen.

 

Angenommen, es kommt zu einem Streit zwischen einem Grundbesitzer, Lord Jones, und einer Eisenbahn-Gesellschaft unter dem Vorsitz von Lord Smith. Energisch nimmt eine Zeitung zu dieser Sache Stellung (sie gehört Lord Brown), und nach endlosem Prozessieren wird die Angelegenheit an das Oberhaus weitergegeben, d.h. zu den Lords Jones, Smith und Brown. Im allgemeinen sind die Verhältnisse noch verwickelter. Der Grundbesitzer lebt nicht vom Grundbesitz, sondern vielmehr davon, daß er die Eisenbahn-Gesellschaft leitet. Dieser Eisenbahn-Lord ist so reich, daß er die Zeitung aufkauft. Das allgemeine Resultat läßt sich nur mit zwei Silben ausdrücken (die man mit äußerster Lungenanstrengung von sich geben sollte): Pooh-Bah.“42 Chesterton resümiert: „Gilbert hat den Übeln des modernen England nachgespürt und sie verfolgt, bis sie buchstäblich nicht mal mehr ein festes Standbein hatten, ganz genauso wie es Swift in seinem allegorischen Werk Gullivers Reisen gemacht hatte.“
Selbst zu irrwitzigen Details gibt es noch Jahrzehnte später Entsprechungen, wenn etwa in der Oper der Mikado von Japan für einen bestimmten Zeitraum eine gewisse Anzahl von Hinrichtungen fordert: Auch im Vietnam-Krieg gab es eine derart makabere Hinrichtungs-Verfügung, als bei der Operation Phoenix die Dorfältesten dazu verpflichtet, monatliche Tötungsquoten zu erfüllen, weswegen sie die Entscheidung, wer nun ein Vietcong war und wer nicht, ziemlich sorglos handhabten. (Vgl.: Gert Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur, Weinheim 1989, 3. Band, S. 381.)


Arthur Sullivans Beitrag zu den satirischen Opern erfüllte keineswegs bloß eine Begleitfunktion. Er setzte durch parodistische Elemente und seine Ernsthaftigkeit den wichtigen Kontrapunkt zu Gilberts Texten. Gerade dies macht die Stücke zu wahren Perlen des Musiktheaters. Wenn seine komischen Opern „als Kompositionen irgendwelche Ansprüche für sich geltend machen können“, meinte Sullivan in einem Interview, „dann zähle ich voll und ganz auf den ernsten Unterton, der sich durch alle meine Opern zieht. Beim Ausarbeiten der Partituren halte ich mich an die Grundsätze jener Kunst, die ich bei der Arbeit an gewichtigeren Werken gelernt habe. Jeder Musiker, der die Partituren dieser komischen Opern analysiert, wird nicht vergebens nach dieser Ernsthaftigkeit und Seriosität suchen.“43 Sullivans Ansprüche an seine komischen Opern verdeutlicht seine Begeisterung für Wagners Meistersinger von Nürnberg. Bezeichnend ist eine kleine Episode, von der der mit Sullivan befreundete Kritiker der Sunday Times, Hermann Klein, erzählte, der den Komponisten einmal im Opernhaus Covent Garden traf, wo er, die Partitur vor sich ausgebreitet, die Meistersinger-Aufführung verfolgte. „Wie Sie sehen, nehme ich gerade Unterricht“, sagte Sullivan zu Klein. „Nun, warum auch nicht? Dies ist nicht nur Wagners Meisterwerk, sondern die größte komische Oper, die je geschrieben wurde.“44


Parodistische Elemente wie etwa die „operacrobatics“ der Mabel in The Pirates of Penzance, die (mit Anleihen bei Violettas Koloratur-Arie aus La Traviata) durch ihre dramaturgisch funktionslosen Koloraturen einen „Bauernhof-Effekt“  so Sullivan  wie etwa die Margarethe in Gounods Faust erzielt, sind nur ein Element von Sullivans musikalischem Humor. Wurde Gilbert vielfach sein beißender verbaler Spott vorgeworfen, so sind die Möglichkeiten, die Sullivan als Musiker ausschöpfte, vielleicht weniger offenkundig, dafür nicht minder subversiv: Ein a-capella-Hymnus wie „Hail, Poetry, thou heaven-born maid“ in The Pirates of Penzance brachte ihm beispielsweise den Vorwurf ein, er verspotte die Kirche, zumal das Ensemble an dieser Stelle zu knien hatte. Bei der Schilderung einer Enthauptung in The Mikado macht das Herabsausen des Henkerbeils ein „herabfallendes“ Flötenarpeggio augen- und ohrenfällig. Durch Sullivans Opern zieht sich ein kontrastreiches Wechselspiel von absurder Heiterkeit und Tragik, wie man es auch in Mozarts da Ponte-Opern findet. Zur höchsten Reife führte der Komponist die scheinbar unvereinbaren Gegensätze in The Yeomen of the Guard, das alle Vorzüge von seiner Musikdramaturgie aufweist: Die subtile Orchestrierung ist, vor allem in den Rezitativen, an der Instrumentationslehre von Hector Berlioz geschult, und von geradezu grandioser Wirkung ist das in seinem Kontrastreichtum sich dramaturgisch wirksam steigernde Finale des 1. Aktes, bei dem Szenen von absurder Komik durch ein rasches Umschlagen in eine ernste Situation kontrapunktiert werden und als Folge daraus das Chaos für alle fast unüberschaubar wird – die Welt steht Kopf und ist aus den Fugen.


Eine besonderes Merkmal der komischen Opern Sullivans ist die desillusionierende Struktur seiner Musik. Bei einem genaueren Blick auf die Vertonung von „He is an Englishman“ aus HMS Pinafore stellt man fest, mit wieviel Ironie Sullivan einen vermeintlich patriotischen Hymnus ausstattet. So weist ein Oktavsprung beim Wort „is“ – also: „Er ist“ – darauf hin, wie sich Sullivan über diesen Ist-Zustand, dieses durch und durch „Engländer-sein“, mokiert. Die Melismen bei „E-e-e-e-nglishman“ sind eindeutig Ironie mit musikalischen Mitteln. Sullivan setzte in seinen Vertonungen oft einen Kontrast zu Gilberts Texten, was dem Schriftsteller mitunter gar nicht recht war. So wird in der Geisterszene aus dem 2. Akt der Oper Ruddigore der arglose Robin von seinen Vorfahren bedroht, die in der Ahnengalerie aus ihren Bildern herabsteigen, um ihn zu traktieren. Die spannungsgeladene Dramatik mit der Sullivan diese Szene vertonte, mißfiel Gilbert, und er machte den Komponisten später dafür verantwortlich, daß das Publikum von dieser Gruseloper eher peinlich berührt war: „Der erste Akt ließ jeden glauben, daß das Stück durchgehend heiter und fröhlich ist. Das Publikum war nicht auf den würdevollen Ernst der Geisterszene vorbereitet. Meinem ungeübten Ohr erscheint diese Musik wirklich sehr schön zu sein, aber  in einer komischen Oper fehl am Platz.“ Ähnliche Meinungsverschiedenheiten gab es auch beim Finale von Utopia Limited. Diese Oper bietet die schärfste politische Satire aller Stücke von Gilbert und Sullivan. Im Schlußchor wird eine deutliche Warnung an die Heimat ausgesprochen, die damals eine führende Großmacht war:

 

There's a little group of isles beyond the wave
So tiny you might almost wonder where it is
Where people are the bravest of the brave,
And cowards are the rarest of all rarities.
The proudest nations kneel at her command
She terrifies all foreign born rapscallions
And holds the peace of Europe in her hand
With half a score invincible battalions.

Such at least is the tale
Which is borne on the gale
From the island that dwells in the sea.
Let us hope for her sake
That she makes no mistake
That she's all she professes to be.45

 

Gilbert war mit der Vertonung nicht sonderlich glücklich. „Ich weiß nicht, wie Sie über das Finale denken – mir ist es als Schlußnummer in seinem ganzen Charakter etwas zu 'andante'“ , klagte er Sullivan. „Ich stelle mir da eher etwas Lebhafteres und Entschlosseneres vor.“46 Sullivan jedoch intensiviert den Text bewußt gerade dadurch, daß er die Nummer gegen die Erwartungen vertont. Den Schlußchor leiten mit einem brachialen Crescendo die ersten Takte von „Rule Britannia“ ein, dann nimmt die Musik eine andere Wendung und stapft mit „Allegro maestoso“ im stockenden punktierten Rhythmus einher. Dieses musikalische Gegengewicht verstärkt die Wirkung dieser und ähnlicher Szenen eher. Geradeso wie der Regisseur Gilbert seinen Darstellern die deftige Pappnasenkomik untersagte, ging Sullivan der vordergründigen, munter heraus-“posaunten“ musikalischen Parole aus dem Weg.

 

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Popularität und Einfluß

Sullivans Vermächtnis für die nachfolgenden Generationen besteht jedoch nicht allein aus seinen Bühnenwerken. Wo immer er konnte, sei es in der Presse oder in der Öffentlichkeit, nutzte Sullivan seine Popularität, um sich für eine Verbesserung der Bedingungen für Musiker einzusetzen. Dabei war er einer der ersten Künstler, die sich gekonnt die Möglichkeiten der Medientechnik zunutze machte, wenn diese auch damals noch auf den immer größer werdenden Pressemarkt beschränkt blieben und  abgesehen von einer Phonographenaufnahme mit der Stimme Sullivans  Musikaufnahmen erst kurz vor und nach seinem Tod von Interpreten seines Ensembles eingespielt wurden. In einer 1888 auch landesweit publizierten, kulturpolitisch bedeutsamen Rede erinnerte Sullivan eindringlich an die Bedeutung, die seine Heimat einst in der Musikwelt hatte, und appellierte, Initiativen für die Zukunft zu ergreifen. Er war sich darüber im klaren, daß man „noch viel leisten [müsse], bevor wir wieder die Musiknation werden, die wir in den fernen Jahrhunderten unserer Geschichte waren.“ Deshalb forderte er vehement „eine geeignete Ausbildung [...], die nicht für den Zweck von Aufführungen gedacht ist, sondern für eine Förderung von kritischer Würdigung und Verstehen.“47

 

Sein Ideal waren verständige Hörer und eine gründliche Ausbildung junger Musiker. „Geben Sie uns intelligente und gebildete Hörer, und wir werden Komponisten und Interpreten hervorbringen, die ihrer würdig sind“, lautete die Schlußfolgerung. Sullivan selbst leistete hierzu seinen Beitrag als Direktor der National Training School for Music, dem späteren Royal College of Music, als Dirigent der Philharmonischen Gesellschaft und von 1881 bis 1898 als künstlerischer Leiter des Musikfestivals in Leeds, wo er das Publikum nicht nur mit den klassischen Meistern, sondern auch mit Werken englischer Kollegen und der neuen Musik seiner Zeit vertraut machte. Als Dirigent bemühte er sich auch, von einem musikwissenschaftlichen Ansatz ausgehend, bei Barockkompositionen der ursprünglichen Klangwelt jener Epoche nachzuspüren, und er war einer der ersten, die ein großes Sinfonieorchester als ungeeignet für die Mozart-Interpretation erachteten. Damit gehört Sullivan zu den ersten Verfechtern originaler Aufführungspraxis wie Johann Heinrich Bonawitz, der Mitte der 80er Jahre bereits auf einem Cembalo konzertierte, und Arnold Dolmetsch mit seinen Aufführungen auf alten Instrumenten um 1890. Nicht zuletzt hatte sich ja bereits der „Musikwissenschaftler“ Sullivan 1867 um Schubert verdient gemacht, als er zusammen mit Grove nach Wien reiste, um unter anderem die verschollen geglaubte Bühnenmusik zu Rosamunde wiederaufzufinden.


Fast alle englischsprachigen Musiker der nachfolgenden Generationen  nicht zuletzt Peter Maxwell Davies und Harrison Birtwistle  sind mit Sullivans Werken, insbesondere den komischen Opern, groß geworden. Oft brachten ihnen diese erstmals die Techniken der klassischen Musik zu Bewußtsein, weil ähnliche Verfahren wie in den großen Meisterwerken auch von Sullivan in einer einfacheren Form verwendet wurden. Für Komponisten boten gerade Gilbert und Sullivans Experimente mit komplizierten metrischen Strukturen eine reichhaltige Quelle, um das Vertonen lyrischer Texte zu studieren. Englische Lyrik ist durch Form und Metrum weitaus weniger „musikalisch“, oder besser gesagt: vertonbar, als etwa die Texte Goethes, Heines oder Mörikes, die sich für das deutsche Kunstlied geradezu anboten. Mitunter muten manche Sullivan-Kompositionen zu Texten Gilberts und Kiplings wie Vorstudien zu den fast als exemplarisch zu bezeichnenden Vertonungen von englischen Gedichten durch Benjamin Britten an. „Zuerst muß ich den Rhythmus festlegen, und dies geschieht noch bevor ich mir über die Melodie Gedanken mache“, äußerte sich Sullivan zu seiner Vorgehensweise. „Die Noten müssen später kommen. Nehmen Sie beispielsweise das Lied aus dem Mikado  'The sun whose rays are all ablaze / With ever-living glory'. Sie werden feststellen, daß es, einmal ganz abgesehen von den unbeschränkten melodischen Möglichkeiten, bezüglich des Rhythmus' eine ganze Reihe verschiedener Wege gibt, wie man diese Worte gestalten kann. [Sullivan summte seinem Gesprächspartner mehrere Varianten für Rhythmus und Melodie vor.] Wie Sie sehen, sind fünf der sechs Methoden banal, und mein erstes Ziel besteht immer darin, dem Rhythmus soviel Originalität wie möglich zu verleihen, und erst dann befasse ich mich mit der Melodie.“48 Daß sich dabei Wort und Musik auch vollendet auf die dramatische Situation abstimmen lassen, beweisen etwa die geschickten Akzentverschiebungen bei den Wortbetonungen in der Arie „Were I thy bride“ (The Yeomen of the Guard), bei der Phoebe versucht, den Kerkermeister Shadbolt zu becircen, um ihm die Zellenschlüssel zu entwenden. Gerade mit seinen Versen zu diesem Lied wollte Gilbert, Berichten zufolge, beweisen, daß Englisch eine genauso melodiöse Sprache wie Italienisch ist.49 Um den Orchesterpart auf Wortklang und Bühnensituation abzustimmen, ließ Sullivan die ganze Szene zunächst immer vor seinem geistigen Ohr Gestalt annehmen. „Ich mache eine hieroglyphenartige Skizze, bevor ich die Partitur niederschreibe, da ich genau weiß, welches Instrument ich benötige, um bestimmte Wirkungen, Kombinationen und Harmonien zu erzielen“, erläuterte er seine Vorgehensweise. „Beim Komponieren verwende ich nie ein Klavier, denn es würde wegen der von mir beabsichtigten Wirkungen nur mein Ohr einschränken. Deshalb schreibe ich die Komposition gleich für das ganze Orchester nieder, und ich höre das Ergebnis der von mir geschaffenen Werke erst, wenn sie aufgeführt und von mir dirigiert werden.“50 Ganz anders ging später Ralph Vaughan Williams vor, der im Geiste seines Lehrers Ravel meinte, ohne Klavier könne man beim Komponieren keine neuen Harmonien erfinden. Und so sollte auch Sullivan der Musik in den 90er Jahren nichts Neuartiges mehr hinzufügen.

 

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Sir Arthur und Mr. Sullivan

Während es Arthur Sullivan gelang, in seinen komischen Opern die vermeintlichen Gegensätze zu einer Synthese zu führen, so blieb ihm als seriöser Komponist die Anerkennung der Nachwelt versagt, und auch in seinem Privatleben zeichnete sich eine zunehmende Entfremdung ab. In Sullivans Persönlich­keit spiegeln sich in besonderem Maße der Facettenreichtum und die Widersprüche des 19. Jahrhunderts: Sullivan, der in seinem Heimatland als „der beliebteste Komponist unserer Zeit“51 gewürdigt wurde und als angesehener Musiker zum Aushängeschild des Landes aufstieg, war privat ein Salonlöwe und leidenschaftlicher Spieler, der ein Verhältnis mit einer von ihrem Gatten getrennt lebenden Frau hatte und trotz seines Umgangs mit der High Society noch mit dem Establishment seine Scherze trieb. Sullivan lernte seine Geliebte Fanny Ronalds 1867 in Paris kennen. Die vermutlich 1839 geborene Amerikanerin hatte sich von ihrem Mann getrennt und kam schließlich 1871 zusammen mit der französischen Hofgesellschaft auf der Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen nach England. Da die junge Amerikanerin nicht geschieden war, durfte die Verbindung in den gehobenen Kreisen, in denen sie mit Sullivan verkehrte, nicht bekannt werden, denn das Thema Scheidung unterlag allgemein einem Tabu.

 

Zu Empfängen und Parties wurden beide immer getrennt eingeladen. Sullivan bezog mit Fanny nie eine gemeinsame Wohnung, selbst in seinen Tagebüchern sind Treffen und intime Kontakte mit ihr häufig nur mit Kürzeln verzeichnet. Sullivan verstand es, sein Privatleben von seiner Arbeit und den gesellschaftlichen Verpflichtungen zu trennen. Er wußte, was von ihm erwartet wurde, und paßte sich dementsprechend an. So war er ja auch 1865 durch Michael Costas Vermittlung einer Freimaurerloge beigetreten, was der Komponist, der nie ein ernsthaftes Engagement in diese Richtung erkennen ließ, wohl eher als gesellschaftlich opportun erachtete, zumal auch die Prinzen des Königshauses und andere Persönlichkeiten den Freimaurern angehörten. Die High Society hatte ihre eigenen Spielregeln. „Als Hauptgrundsatz galt nicht, die Tugend zu pflegen, sondern einen Skandal zu vermeiden“, resümierte ein Autor, der unter dem Pseudonym Diplomate étranger schrieb.


Dieses Verhältnis und die unterschiedlichen Bekanntenkreise aus den Spielkasinos und den Konzertsälen brachten Sullivan vielfach in einen Zwiespalt, der allmählich zu Differenzen führte. Der Journalist Joseph Bennett, der für den Komponisten das Textbuch zu The Golden Legend schrieb, meinte später, diese Entwicklung sei zum Teil auf die Enttäuschung darüber zurückzuführen, daß Sullivan sich nicht vollends den “ 'höheren Dingen', von denen er immer gesprochen hatte“ widmete. „Ich sah, wie er ganz vom Leben im Londoner West End in Anspruch genommen wurde, was für einen Künstler niemals förderlich sein kann. Ich sah, wie er – meiner Meinung nach – solch dürftigen Ehren, wie sie die Pferderennbahn bietet, nachjagte. Außerdem spürte ich, daß so große Talente, wie er sie besaß, beim Komponieren komischer Opern nicht mit dem entsprechenden Gewinn eingesetzt würden, ganz gleich wie beliebt und reizend sie auch sein mochten. Dies alles mag sich auch auf meine öffentlichen Stellungnahmen über ihn so ausgewirkt haben, daß es einem so sensiblen Menschen rasch aufgefallen sein muß. Und so kam es, daß sich unsere Wege ohne den geringsten Streit trennten.“52


Auch in manchen Phasen der Zusammenarbeit mit Gilbert stellte sich bei Sullivan eine gewisse Verdrossenheit bezüglich heiterer Werke ein. „Halten sie mich für eine Drehorgel?“ lautete eine Klage im Tagebuch, nachdem Gilbert und Carte, auf den nach Iolanthe abgeschlossenen Fünf-Jahres-Kontrakt pochend, bei ihm ein neues Stück anmahnten. „Sie betätigen die Kurbel, und ich gebe Musik in jeder beliebigen Stimmung von mir!“53 Sullivan strebte danach, sich vom „Vertonen von Silben“ bei Gilbert freizumachen. Ihm schwebte eine bedeutende, neue Oper vor, ein Werk, „bei dem die Musik im Vordergrund steht – bei dem die Worte zur Musik anregen und sie nicht bestimmen sollen, und bei dem die Musik die emotionale Wirkung der Worte intensivieren und hervorheben soll.“54 Gerade in einem Werk wie Wagners Meistersingern von Nürnberg mag Sullivan die menschlich glaubwürdigen Charaktere gesehen haben, die er von Gilbert (oft vergeblich) forderte. Gilbert war nicht in seinem eigentlichen Element, wenn er wie 1880 auf Anfrage Sullivans den Text zu dem Oratorium The Martyr of Antioch von H.H. Milman adaptierte. Die „ernsteste“ Oper wurde The Yeomen of the Guard, die Sullivan von allen seinen Bühnenwerken am liebsten war.

 

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Eine nationale Oper

Seinen Ruf als Komponist gründete Sullivan vor allem auf seine Sakralmusik, und nach dem triumphalen Erfolg des Oratoriums The Golden Legend wurde von vielen Seiten, nicht zuletzt von Königin Victoria, sein Ehrgeiz bestärkt, eine große nationale Oper zu schreiben. Für Sullivan war diese „Oper der Zukunft“ ein Kompromiß. „Sie kommt nicht aus der französischen Schule mit ihren prunkhaften, kitschigen Melodien, ihren sanften Licht- und Schattenwirkungen, ihren theatralischen Effekten voll Wirkungssucht; nicht aus der Wagnerschen Schule mit ihrer Düsterkeit und den ernsten, ohrenzerfetzenden Arien, mit ihrem Mystizismus und ihrem unechten Empfindungen; und auch nicht aus der italienischen Schule mit ihren überspannten Arien, Fiorituren und an den Haaren herbeigezogenen Effekten. Sie ist ein Kompromiß zwischen diesen dreien – eine Art eklektische Schule, eine Auswahl aus den Vorzügen der drei anderen“, erläuterte Sullivan in einem Interview. „Ich glaube nicht an Opern, die auf Göttergestalten und Mythen aufbauen. Das ist die Schuld der deutschen Schule. Es ist metaphysische Musik – es ist Philosophie. Was wir brauchen sind Handlungen, die Charaktere aus Fleisch und Blut ermöglichen, mit menschlichen Gefühlen und menschlichen Leidenschaften. Musik soll zum Herzen sprechen und nicht zum Kopf.“55


Sullivan und Carte entwickelten hochfliegende Pläne. Mit einem neuen Opernhaus, das nahezu doppelt so groß war wie das Savoy Theatre, wollte der Impresario die englische Nationaloper begründen, und Arthur Sullivan sollte die Einweihungsoper dazu komponieren. Ein kühnes Unternehmen, fürwahr, waren doch alle vorangegangenen Versuche, die Dominanz der italienischen Oper zu brechen oder zumindest eine Oper in der Landessprache zu begründen, gescheitet.


Ernsthafte Versuche in diese Richtung konnten sowieso erst unternommen werden, nachdem 1843 der „Act for Regulating Theatres“ den unpopulären „Licensing Act“ von 1737 ablöste, was einen wichtigen Beitrag zur Reform des Theaterwesens im Königreich bedeutete. Alle vorherigen Bestimmungen wurden dadurch aufgehoben und neu gefaßt; wesentliche Ergebnisse zeitigte die Aufhebung der Privilegien der beiden einander gegenüberliegenden Theater Drury Lane und Covent Garden, die Zentren des „legitimate drama“ waren und einzig das Recht besaßen, Tragödien und Komödien aufzuführen. Nun konnten auch die „minor theatres“ nach dieser langen Trennung in zwei Klassen von Theatern  frei vom Zwang, die Tragödien- und Komödienform zu vermeiden  neue Dramentypen entwickeln. Ferner waren in dem neuen Theatergesetz die Befugnisse des Lord Chamberlain enger festgelegt, des Haushofmeisters des englischen Herrschers, der zugleich als oberster Aufsichtsbeamter für das Theater und die Zensur bis 1968 (!) zuständig war. Er konnte Aufführungen untersagen, „wann immer er der Meinung sein sollte, daß es zur Bewahrung der guten Sitten, des Anstands oder des öffentlichen Friedens angemessen sei.“56 So wurde das 19. Jahrhundert zur eigentlichen Pionierzeit der englischen Oper. Damals errangen zunächst jene Werke den größten Triumph, die später liebevoll als „The English Ring“ bezeichnet wurden. Den ersten Durchbruch erzielte 1843 Michael William Balfe, ein engagierter Verfechter der Oper in englischer Sprache, mit dem Erfolg von The Bohemian Girl. Es folgten 1845 Maritana von William Vincent Wallace sowie 1862 Julius Benedicts The Lily of Killarney. Von allen Opern jener Zeit gewannen nur wenige Werke wie Balfes The Bohemian Girl und Wallaces Maritana auch international Anerkennung. Bestrebungen, außerhalb der italienischen Spielzeit am Covent Garden gleichfalls Opern in englischer Sprache  Originalproduktionen und Übersetzungen  zu etablieren, war ein wechselndes Los beschieden. Die Pyne-Harrison-Company mußte als „Royal English Opera“ 1864 schließen, eine neu gegründete Gesellschaft erlitt zwei Jahre darauf das gleiche Schicksal, weil die erfolgreichen Kassenfüller, wenn es sie denn gab, nicht die Kosten für die Experimente und Mißerfolge trugen. Dauerhafter waren Unternehmungen, die im kleineren Rahmen betrieben wurden, beispielsweise die Kammeropern, die Thomas German Reed und seine Frau Priscilla in der „Gallery of Illustration“ in London herausbrachten  übrigens eine Art Tarnname für den Theatersaal, da Galeriebesuche unter moralisch einwandfreien Bürgern längst nicht als so „shocking“ galten wie der Aufenthalt in Theatern.


Gilbert wollte mit den hochfliegenden Nationalopernplänen von Sullivan und Carte nichts zu tun haben. Ein Bühnenwerk dieser Art war seine Sache nicht, zudem kam es 1890 zum Zerwürfnis des Savoy-Triumvirats, da Gilbert Carte immer mehr für einen Mann hielt, der auf dem Rücken des Librettisten und des Komponisten seine Karriere aufgebaut hatte. Außerdem betrachtete er Sullivans Interessenverflechtung mit Carte voller Argwohn. Für Carte war Gilbert schlichtweg unfähig einzuschätzen, welche Bedeutung die Gründung, Organisation und die Leitung des Savoy Theatres für das Werk beider hatte. Immerhin empfahl Gilbert noch Julian Russell Sturgis als Librettisten für die gewählte Vorlage der großen Nationaloper: Walter Scotts Roman Ivanhoe.


Mit dem nationalen Element in der britischen Musik verbindet man heutzutage eher die volksliedhaften, pastoralen Klänge eines Vaughan Williams. Die allgemeine Auffassung gegen Ende des 19. Jahrhunderts und auch Sullivan verbanden das Englische an der Musik jedoch nicht mit idyllischen Naturtönen, sondern mit historischen Sujets. Die fiktiven Ereignisse zur Zeit des fast schon legendären Königs Richard Löwenherz im 12. Jahrhundert und der Lobgesang auf edle Ritterlichkeit waren nicht ohne Bedeutung für das ethische Denken der Viktorianer. Schon vor Sullivan hatten viele Komponisten das Thema aufgegriffen, das bekannteste Beispiel dürfte Heinrich Marschners 1829 in Leipzig uraufgeführte Oper Der Templer und die Jüdin sein.57

 

Sullivans Textdichter Sturgis lieferte nun ein Libretto, das die Haupthandlung der Romanvorlage weitgehend beibehielt und den Komponisten mit einer Reihe wirkungsvoller Tableaus versorgte, die jedoch nur in loser Folge aneinandergereiht waren. Das Werk bot keine so kühne Stoffwahl wie etwa noch das durchaus bühnenreife Oratorium The Golden Legend. Hier lag Sullivans Quelle, Longfellows The Golden Legend, eine Verslegende aus dem 12. Jahrhundert zugrunde, Hartmann von Aues Der arme Heinrich, die unter anderem auch als Stoff zu einer Oper Hans Pfitzners (1895) und einem Drama Gerhart Hauptmanns (1902) diente. Interessant an The Golden Legend ist neben manch kühnen harmonischen Wendungen vor allem die Luzifer-Gestalt, die wie später in der Oper The Beauty Stone (1898) kein bocksfüßiger, gehörnter Unhold mehr ist, sondern mal als Mönch, mal als Edelmann auftritt und musikalisch vortrefflich charakterisiert wird. Die Figur des Satans, der so lange aus der englischen Musikliteratur verbannt war, wurde hier durch Sullivan wieder hoffähig gemacht; sechs Jahre später trat Luzifer in Parrys Job sogar leibhaftig auf, um mit seinen Helfershelfern Hiobs Anwesen zu verwüsten.


Sullivan, an dem die Streitigkeiten zwischen Gilbert und Carte nicht spurlos vorübergingen und seine Energie lähmten, hatte bei Ivanhoe Mühe mit Sturgis' Blankvers und raffte sich nur allmählich zur Komposition auf. Lieber widmete er sich den Pferderennen in Ascot oder dem gesellschaftlichen Verkehr mit der High Society. Die für den 10. Januar 1891 vorgesehene Uraufführung und damit die Einweihung des neuen Opernhauses mußte verschoben werden, wofür Sullivan eine stattliche Entschädigung zu zahlen hatte. Während das Savoy Theatre weiterhin The Gondoliers spielte, fand die Einweihung des Royal English Opera House mit Ivanhoe am Samstag, den 31. Januar 1891, statt. Das neue Haus am Cambridge Circus bot 1697 Zuschauern Platz (im Savoy waren es knapp 1300). Das Orchester war mit 63 Musikern fast doppelt so stark wie das des Savoy, hinzu kamen mehrfach besetzte Hauptrollen, 72 Chormitglieder und eine üppige Ausstattung. Wie es bei Anlässen dieser Art üblich ist, fand sich viel Prominenz ein. Sullivan widmete sein neues Werk Königin Victoria  Britten tat 1953 für Elizabeth II. desgleichen mit seiner Oper Gloriana , doch die Queen hat es sich nie angesehen.
Vorsichtig, aber zutreffend, hieß es nach der Uraufführung von Ivanhoe in der Times, daß, „falls – was derzeit sehr wahrscheinlich ist – die modernen Theorien zur dramatischen Musik allgemeine Anerkennung finden sollten, Ivanhoe schwer zu kämpfen haben [wird], um sich auf Dauer halten zu können.“58 Bei der Oper von Sturgis und Sullivan steht der Sieg des Guten über das Böse (die Sachsen bezwingen die Normannen) und der Tugend über das Gemeine (Rebecca gegen den Templer) im Vordergrund, präsentiert in einer wirkungsvollen Szenenfolge in Form eines breit angelegten Bilderbogens. Den aufreibenden Konflikten zwischen verschiedenen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften in Scotts Roman schenkte man wenig Beachtung. Statt dessen wird die Figurengruppierung des Melodramas – Held, Schurke, Heldin, guter Alter und Komiker – weitgehend beibehalten. Trotz mancher beeindruckender musikalischer Passagen wie der Gestaltung der Rebecca, deren Gebet (2. Akt, 3. Szene) durch eine ausgeklügelte Orchesteruntermalung gestützt wird, der ungeahnten Leidenschaft in der Arie des Tempelritters Brian „Woo thou thy snowflake“ (2. Akt, 2. Szene) oder den Szenen mit König Richard und Bruder Tuck, fällt auf, daß sich Sullivans Musik zu Ivanhoe zwar durch melodischen Einfallsreichtum und eine ausgefeilte Instrumentierung auszeichnet, doch sie treibt das Drama nur sporadisch voran und macht Konflikte nicht immer evident. Obwohl der Aufbau von Sturgis Libretto von allen Ivanhoe-Vertonungen Scott am ehesten gerecht wird, wirkt er episodenhaft.

 

Dennoch bietet er aber in Verbindung mit Sullivans Musik ein breit angelegtes Panorama wie man es beispielsweise auch in Rossinis Wilhelm Tell, Smetanas Libussa, Mussorgskis Chowantschina oder Gershwins Porgy and Bess findet. Verglichen mit Meyerbeers Hauptwerken indes werden keine Handlungsmotive durchgehalten und Charaktere schwach entwickelt werden. Es bleibt jedoch unverständlich, weshalb Sullivan bei seiner lebenslangen Beschäftigung mit William Shakespeare, deren Früchte zahlreiche Liedvertonungen und Bühnenmusiken waren (wie etwa zu Irvings Macbeth-Produktion), kein Werk des bedeutenden englischen Dramatikers als Stoff wählte, um seinen Traum von einer großen Oper zu verwirklichen. Obwohl Sullivans Oper es auf für eine dramatische Oper beachtliche 160 Aufführungen in Folge brachte, musste Carte dasWerk wegen nachlassendem Publikumsinteresse schließlich absetzen, noch bevor die entstandenen Kosten wieder eingespielt waren. Schließlich sah er sich gezwungen, das Haus Anfang 1892 letztlich ganz schließen, weil er sich nicht darauf eingestellt hatte, ein Repertoire mit Opern britischer Komponisten aufzubauen. Trotz großer Verluste war der Manager jedoch dank der Savoy-Erfolge keineswegs ruiniert, dafür aber reichlich desillusioniert. Er mußte das Haus an Augustus Harris verkaufen, der zu diesem Zeitpunkt bereits Herr über Covent Garden, Drury Lane, Her Majesty's und das Olympic Theatre war. Im Dezember 1892 wurde das Royal English Opera House dann unter dem Namen „Palace Theatre of Varieties“ als Varietétheater wiedereröffnet und ist heute ein weltbekanntes Musical-Theater. Der Grund für den finanziellen und ideellen Mißerfolg mag nicht allein die Historienoper selbst gewesen sein, sondern auch der Umstand, daß Carte versuchte, ungeachtet der anderen Publikumsstruktur des neuen Hauses, den Dauerspielbetrieb des populären Savoy Theatres in diese nationale Einrichtung zu übertragen, anstatt von Anfang an Aufträge für neue englische Opern zu vergeben, die in den Spielplan hätten integriert werden können. Dieses englischsprachige Opern-Repertoiretheater entstand schließlich 1931 mit der Sadler's Wells Opera, die 1968 in das gut 2000 Zuschauer fassende Coliseum umzog  das größte Theater Londons  und seit 1974 den Namen „English National Opera“ trägt. Von Ivanhoe fanden nur noch sporadisch weitere Aufführungen statt, und es dauerte in der Tat bis nach dem Zweiten Weltkrieg, daß mit Peter Grimes „das Eis für die britische Oper gebrochen“ werden konnte, wie es der Komponist Benjamin Britten formulierte. 59 „Zwar kann man kaum behaupten, daß das herrliche Theater am Cambridge Circus ausschließlich für seine Produktion gebaut wurde“, hieß es zehn Jahre nach Sullivans Tod in The Evening Standard and St. James's Gazette, „aber es steht außer Frage, daß es ohne Sir Arthur Sullivan auch kein English Opera House gegeben hätte.“60


Sullivans letzte Lebensjahre waren überschattet von seiner schweren Krankheit, einem chronischen Nierenleiden, dem Sterben vieler Wegbegleiter und Freunde sowie dem dadurch fehlenden Antrieb, den neuen Stimmen in der Musik, wie sie von Strauss, Elgar und bald auch von Mahler und Schönberg zu vernehmen waren, noch Wesentliches hinzuzufügen. Durchschlagende Bühnenerfolge blieben in den 90er Jahren selbst bei Gilberts Mitwirkung aus. Weder mit Utopia Limited (1893) und The Grand Duke (1896) noch  ohne Gilberts Beteiligung  mit Haddon Hall (1892), The Beauty Stone (1898) und The Rose of Persia (1899) konnte Sullivan an frühere Zeiten anknüpfen. Die langen Phasen der Untätigkeit und die Paralyse seiner musischen Kreativität, vor allem in Sullivans letzten Jahren, sind, wie er seinem Tagebuch anvertraute, „erstens der Krankheit und dem körperlichen Unvermögen, zweitens dem Brüten und dem nervösen Ekel vor mir selbst“61 zuzuschreiben.

 

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Spötterdämmerung

Als Sullivan am 22. November 1900 zwei Monate vor Königin Victoria starb, wurden ihm alle Ehren des In- und Auslandes zuteil. Doch schon bald nach der Jahrhundertwende zerfledderte die Kritik seinen einstigen Ruhm. Das brachte unter anderem Edward Elgar in Harnisch, der sich stets der Bedeutung Sullivans für das englische Musikleben und der Verfeinerung des Genres der komischen Oper bewußt war, und ließ ihn in Vorträgen diese „fragwürdige Seite der Musikkritik“ brandmarken.62 Schon in den 90er Jahren hatten Sullivan neue aufstrebende Künstler wie Barnby, Elgar oder German allmählich den Rang streitig gemacht, überdies galt sein Stil, im Sitzen zu dirigieren, in der Zeit, als nach der Epoche der Virtuosen und Gesangsidole nun die der Pultstars anbrach, allmählich als altmodisch. Mehr als Sullivans stets interessante Programmzusammenstellungen war nun ein Orchesterleiter mit starker persönlicher Ausstrahlung gefragt. „Wir sind so verdorben mit unseren Richters, Levis, Mottls und Nikisches, daß der an seinem Pult sitzende Sir Arthur Sullivan nicht mehr beeindrucken kann“, faßte der Rezensent von The World die allgemeine Meinung zusammen. „Die Orchester sind jetzt an eine straffere Führung gewöhnt als sie sein kraftloser Schlag geben kann, und der Dirigent, der mit seinen Augen so sehr an der Partitur klebt, ist einfach im Hintertreffen.“63 Dennoch sah George Grove in ihm stets „einen ausgezeichneten Dirigenten“, wie er 1895 anläßlich einer Aufführung von Schumanns 4. Sinfonie und Beethovens Violinkonzert mit dem berühmten Joseph Joachim bemerkte.64 Kraft seiner Persönlichkeit erzielte Sullivan noch beachtliche Publikumserfolge, wie etwa mit Auszügen aus Wagners Meistersingern in englischer Sprache sowie Aufführungen von Bachs h-Moll-Messe und Mendelssohns Elijah. Der Daily Telegraph bescheinigte seinem Wagner-Dirigat beim Festival in Leeds 1898, daß „die Musik des Bayreuther Meisters mit wahrem Verständnis und einem absoluten Gespür für ihre vielfältigen Schönheiten erklang“, und der Rezensent des Blattes Athenaeum urteilte abwägend: „Den Verzicht auf alle Show-Effekte bei seinen Dirigaten kann man leicht als Kälte mißdeuten, jedoch mögen solche Eindrücke hier, wie auch anderswo, täuschen. Sir Arthur ist aufgrund seiner Kenntnisse, raschen Auffassungsgabe und Erfahrung einer der sichersten Dirigenten überhaupt und einer der sichersten englischen Dirigenten, vielleicht sogar der beste.“65


Unverziehen blieb indes, daß Sullivan immer wieder ins Lager der leichten Muse desertierte und sogar in der Erstausgabe von Groves Dictionary of Music and Musicians wurde genörgelt, daß Sullivan doch zu Wertvollerem befähigt sei. Die Unterscheidung zwischen ernster Musik, die Anerkennung verdient, und Unterhaltungsmusik hatte sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Der Graben vertiefte sich zusehends durch die Aufgabenspaltung zwischen Komponist und Interpret einerseits, die noch bis zu Chopins Zeiten zumeist in Personalunion aktiv waren, sowie der bereits erwähnten Forderung nach Amüsement in den gut situierten Kreisen und der „Progressivität“ des traditionsunabhängigeren neuen Bürgertums, das erst allmählich seine eigene Konventionen entwickeln mußte. Zum Maßstab der Wert- und Qualitätsbeurteilung eines Werkes wurden nicht etwa die funktionale Ambiguität der Komposition, die in die Struktur eingelagerten entgegengesetzten Spannungen, die Reichhaltigkeit einzelner Gedanken und die planvolle Unbestimmtheit der Ausführung genommen,66 sondern die äußeren Umstände, die zu seiner Entstehung führten. „Ernste“ Musik in den traditionellen Gattungen fand in einer Betrachtungsweise, die das Publikum gar nicht mehr berücksichtigte, zumindest die Aufmerksamkeit der Fachleute. Unterhaltende oder gar kommerziell erfolgreiche Musik galt von vornherein als niederrangig. Vielleicht mag Sullivans Vorbild Rossini eine solche Entwicklung gespürt haben, als er 1829 noch eine ernste Oper, Guglielmo Tell, und 1863 noch ein sakrales Werk, die Petit Messe solenelle, schrieb, ansonsten aber das Komponieren aufgab. Möglicherweise ahnte er, daß es fortan nicht mehr möglich sein wird, danach beurteilt zu werden, ob man gute oder schlechte Musik schreibt, sondern ob sie ernst oder unterhaltend ist.


Obwohl das britische Musikleben durch Arthur Sullivan wertvolle Impulse empfing, sowohl was das Wiederanknüpfen an die Tradition betrifft als auch die Öffnung zu kontinentalen Entwicklungen, wurde Sullivan eine bleibende Anerkennung versagt. Auch wenn sich diese Wiederentdeckung der nationalen Identität im Bereich der Musik durchaus vergleichen läßt mit den Anregungen, die Glinka in Rußland bzw. Weber in Deutschland gaben, blieb Sullivan nur die Ächtung der „Kenner“ statt die Achtung vor seinen Leistungen. Seine dramatischen Werke gerieten für lange Zeit in Vergessenheit, während am Savoy Theatre und in Laienvereinigungen, den in vielen Städten der englischsprachigen Welt verbreiteten „Gilbert & Sullivan Societies“, vielfach eine Tradition beharrlich weitergepflegt wurde, mit der die nachfolgenden Verantwortlichen der D'Oyly Carte Opera Company  Gralshütern gleich  die Welt von „G & S“ abschotteten und zu einer Art Bayreuth der leichten Muse machten. Originalmanuskripte, die nicht in den Besitz von Bibliotheken oder Sammlern mit redlichen wissenschaftlichen Ambitionen gelangt sind, hütet man bis auf den heutigen Tag wie Fafner seinen Schatz. Selbst als die Zeiten, in denen Sullivan, Gilbert und Carte mit Macht gegen die Mißachtung des Urheberrechts vor allem in den USA vorgehen mußten, endlich vorbei waren, machte der Kulturprotektionismus und das Beharren auf Urheberrechtsansprüchen Inszenierungen anderer Ensembles unmöglich. Bis Ende 1961 hatte die „D'Oyly Carte Opera Company“ das Monopol für professionelle Aufführungen der Opern von Gilbert und Sullivan. Erst 1962, fünfzig Jahre nach dem Tod Gilberts, konnte die „Sadler's Wells Opera“ mit Iolanthe erstmals eine Sullivan-Oper in ihr Repertoire englischer Werke aufnehmen, mit dessen Aufbau man 31 Jahre zuvor begonnen hatte.67
Dem Nachruhm Sullivans stand die Scheuklappenpolitik seiner Nachlaßverwalter und das Verdikt der „seriösen“ Musikkritik und der Musikwissenschaft, die seine Leistungen diskreditierten, entgegen.68 Auch wenn es Sullivan nicht gelang, 1891 mit Ivanhoe eine Nationaloper von Rang zu komponieren, so markierte sein Auftreten einen Wendepunkt in der britischen Musik, auf den Künstler nachfolgender Generationen im Bereich des Konzerts und des Musiktheaters weiter aufbauen konnten. Sein erster Biograph, Arthur Lawrence, resümierte 1899: „Die musikalische Renaissance Großbritanniens ist ein Teil der Geschichte der letzten dreißig Jahre. Es muß der Nachwelt überlassen bleiben, sie genau einzuordnen. Wie genau diese Renaissance dem Genie Sullivans zuzuschreiben war und dem Umstand, daß er sozusagen coram populo schreiben konnte, wird sich bestimmen lassen, wenn es dem Historiker möglich ist, unvoreingenommen das Werk und den Einfluß auf die Menschen seiner Generation zu untersuchen, zu einer Zeit also, wenn unsere gegenwärtigen kleinen Eifersüchteleien und Meinungsverschiedenheiten der Vergessenheit anheimgefallen sein werden.“69

 

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Fußnoten

 

  1. Siehe: Benjamin, Walter; Illuminationen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980, S. 170 ff.
  2. Sanders, Andrew; „Dickens and the English Language“ in Dear, I.C.B.; Oxford English, Oxford University Press 1986, S. 544.
  3. In seiner landesweit publizierten Rede vom 18. Oktober 1888 in Birmingham sagte Sullivan: „Es ist außergewöhnlich von welch einem frühen Zeitpunkt an die Musik eine bedeutende Rolle übernommen hat. In dem Bericht über die Erschaffung der Menschen, wie wir ihn im Buch Genesis finden, wird die Gesellschaft in drei große Gruppen gegliedert: (1.) Ackerbauern, „die Zeltbewohner und Hirten“, (2.) Warenhersteller, „Schmiede, die Erz und Eisen bearbeiten“, (3.) Musiker, „Zither- und Flötenspieler“, also Streicher und Bläser. Die Musik steht dabei auf einer Stufe mit so wesentlichen Arbeiten wie Landwirtschaft und Warenproduktion. Und diesen gleichen Anteil im Getriebe der Welt hat sich die Musik bewahrt. Aber sie gehört nun einmal zum innersten Teil der menschlichen Natur, ihre Gegenwart wird oft übersehen, und sie ist uns ebensowenig bewußt wie die Luft, die wir atmen, unser Sprechvermögen, die natürliche Bewegung unserer Muskeln oder unser Herzschlag. Sie ist ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens.“ Lawrence, A.; Arthur Sullivan, London 1899, S. 277.
  4. Weber, William; Music and the Middle Class, London 1975, S. 16.
  5. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, London 1899, S. 272.
  6. Siehe Kruger, Loren; “ 'Our National House': The Ideology of the National Theatre of Great Britain“, in Theatre Journal, März 1987, Bd. 39, Nr. 1, S. 35-50.
  7. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 44 f.
  8. Shaw, G.B.; Musikfeuilletons des Corno di Bassetto, Reclam, Leipzig 1972, S. 195.
  9. Zitiert nach: Kohlmaier, G. / von Sartory, B.; Das Glashaus – ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, München 1981, S. 426.
  10. Hatzfeld, E. (Hrsg.); „Interviews with Eminent Musicians  No. 5: Mr. August Manns“ in The Strand Musical Magazine, Vol. 1, Januar-Juni 1895, London 1895, S. 404.
  11. Jacobs, Arthur; Arthur Sullivan  A Victorian Musician, Scolar Press, Aldershot 1992, S. 28.
  12. Flower, N./Sullivan, H.; Sir Arthur Sullivan, London 1927, S. 38.
  13. Ein interessantes Notenbeispiel hierzu findet sich bei Fink, Robert; „Rhythm and Text Setting in The Mikado“ in 19th Century Music, Bd. XIV, Nr. 1, Sommer 1990, S. 32.
  14. Zu ersehen aus Holsts Notizen für den Vortrag „England and Her Music“, in Vaughan Williams, U./Holst, I.; Heirs and Rebels, S. 50.
  15. Proust, Marcel; Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1. Band: In Swanns Welt, Frankfurt a. M. 1983, S. 438.
  16. Ehrlich, Cyril; Harmonious Alliance  A History of The Performing Right Society, Oxford University Press 1989, S. 5.
  17. Hanslick, E.; Aus dem Konzertsaal, 1870 (Briefe aus England 1860), S. 499.
  18. Mackenzie, A.C.; A Musician's Narrative, London 1927, S. 59.
  19. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 103 f.
  20. Hibbert, Christopher; Gilbert and Sullivan and Their Victorian World, New York 1976, S. 73.
  21. Young, P.M.; Sir Arthur Sullivan, London 1971, S. 41.
  22. Hibbert, C.; Gilbert and Sullivan and Their Victorian World, S. 56.
  23. Bennett, J.; Forty Years of Music, London 1908, S. 65. Zitiert nach: Young, P.M.; Sir Arthur Sullivan, S. 51.
  24. Zedlitz, M.A. von; „Interviews with Eminent Musicians – No. 3: Sir Arthur Sullivan“ in The Strand Musical Magazine, Januar-Juni 1895, Bd. I, S. 170.
  25. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 56.
  26. Hibbert, C.; Gilbert and Sullivan and Their Victorian World, S. 167.
  27. Young, P.M.; Sir A. Sullivan, S. 62.
  28. Siehe z. B. David Eden: W.S. Gilbert – Appearance and Reality, Saffron Walden 2005 und Saremba, Meinhard/Eden, David: The Cambridge Companion to Gilbert and Sullivan, Cambridge University Press 2009.
  29. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 87.
  30. Crompton, Lewis (Hrsg.); The Great Composers – Reviews and Bombardments by Bernard Shaw, London 1978, S. 328. Es sei daran erinnert, daß Sullivans erste Bühnenkomposition, das Ballett L'Ile enchantée, als Anhängsel zu Bellinis Oper La Sonnambula gegeben wurde.
  31. Mackenzie, Alexander; A Musician's Narrative, London 1927, S. 205.
  32. Siehe: Eden, David / saremba, Meinhard: The Cambridge Companion to Gilbert and Sullivan, Cambridge University Press 2009.
  33. Williamson, Audrey; Gilbert and Sullivan Opera, London 1953, S. 44 f.
  34. Stresau, H.; G.B. Shaw, Reinbek 1962, S. 80.
  35. Vgl. die Musikbeispiele in Hughes, Gervase; The Music of Arthur Sullivan, London 1960, S. 122 f.
  36. Dark, S./Grey, R.; W.S. Gilbert  His Life and Letters, London 1923, S. 59.
  37. Hibbert, C.; Gilbert and Sullivan and Their Victorian World, S. 70.
  38. Ebd., S. 71.
  39. Flower, N./Sullivan, H.; Sir Arthur Sullivan, S. 94.
  40. Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 116.
  41. Ebd., S. 116.
  42. Bradley, Ian; The Annotated Gilbert and Sullivan, London 1982, Bd. 1, S. 268.
  43. 22. Juli 1885 im San Francisco Chronicle, zitiert nach: Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 223.
  44. Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 343.
  45. „Es gibt eine kleine Inselgruppe jenseits der Wogen – / so winzig, daß man sich fast wundert, wo sie überhaupt ist – / Dieses Nation ist die tapferste der tapferen, und Feiglinge sind eine absolute Seltenheit. / Die stolzesten Nationen gehen in die Knie, wenn sie es befiehlt; / sie versetzt alle ausländischen Halunken in Angst und Schrecken; / und hat den Frieden Europas in der Hand / mit zehn unbesiegbaren Bataillonen! / So heißt es zumindest in der Sage, / die der Sturmwind trägt / von der Insel, die dort im Meer liegt. / Wir hoffen für sie, / daß sie keinen Fehler macht / und daß alles stimmt, was man dort von sich behauptet.“ (Aus dem Finale des 2. Aktes von Arthur Sullivans Oper Utopia Limited.)
  46. Wolfson, John; Final Curtain, New York 1976 S. 207.
  47. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 263 f.
  48. Lawrence, A.; „Sir Arthur Seymour Sullivan“ in Strand Magazine, XIV, Dezember 1897, S. 653 f.
  49. Diese Szene wird ausführlich analysiert in dem Artikel von Robert Fink; „Rhythm and Text Setting in The Mikado“ in 19th Century Music, Bd. XIV, Nr. 1, Sommer 1990, S. 40 ff.
  50. Zedlitz, M.A. von; „Interviews with Eminent Musicians – No. 3: Sir Arthur Sullivan“ in The Strand Musical Magazine, Januar-Juni 1895, Bd. I, S. 172.
  51. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 9.
  52. Hibbert, C.; Gilbert and Sullivan and Their Victorian World, S. 206.
  53. Ebd., S. 192.
  54. Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 287.
  55. Ebd., S. 223.
  56. Zitiert nach: Drabble, M.; The Oxford Companion to English Literature, Oxford University Press 1985, S. 1108.
  57. Siehe: Saremba, Meinhard: „The Crusader in Context – Operatic versions of Ivanhoe and the Berlin production 1895/96“ in Eden: Sullivans Ivanhoe, Saffron Walden 2007, S. 69 – 108.
  58. Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 332.
  59. Kennedy, M.; Britten, London 1981, S. 47.
  60. Mitchell, J.; The Walter Scott Operas, Alabama 1977, S. 198.
  61. Young, P.M.; Sir Arthur Sullivan, S. 257.
  62. Ebd., S. 264. Siehe auch Elgars Essay „Critics“ in Young, P.M. (Hrsg.); A Future for English Music, London 1968.
  63. Jacobs, A.; Arthur Sullivan, S. 368.
  64. Young, P.M.; Sir George Grove, London 1980, S. 248 f.
  65. Zitiert nach: Stanyon, Anne; „The Great Leeds Conspiracy – Sullivan, the 1898 Festival, and Beyond“, Sir Arthur Sullivan Society Magazine, Nr. 31, Winter 1990, S. 9-18.
  66. Interessante Beiträge zur Qualitätsbeurteilung von Musik bieten: Meyer, Leonard B.; Music, the Arts and Ideas, Chicago/London 1967. William Thomson; „Functional Ambiguity in Musical Structures“, Music Perception, Bd. 1, Nr. 1, Herbst 1983.
  67. Siehe Saremba, M.: „In the Purgatory of Tradition – Arthur Sullivan and the English Musical Renaissance”, in: C. Brüstle/G. Held (ed.): Music as a Bridge – German-British Musical Relationships, Hildesheim 2005, p. 33 – 71.
  68. Siehe Hughes, Meirion / Stradling: Sir Arthur Sullivan’'s crime, in: diep., The English Musical Renaissance 1860-1940 – Construction and Deconstruction, London/New York 1993, p. 186 – 191. / Hughes, Meiron (ed.): The English Musical Renaissance and the Press 1850 – 1914: Watchmen of Music, Ashgate, 2002.
  69. Lawrence, A.; Arthur Sullivan, S. 165.

 

 

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